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EuGH: Asyl für amerikanischen Deserteur in Deutschland?

Bearbeiter:

RL 2004/83/EG: Art 9

Im vorliegenden Fall eines amerikanischen Deserteurs, der in Deutschland Asyl beantragt hat, stellt der EuGH klar, unter welchen Voraussetzungen einem Deserteur aus einem Drittstaat in der EU Asyl gewährt werden kann.

Nach der RL über den Flüchtlingsstatus (RL 2004/83/EG) kann als Verfolgung ua die Strafverfolgung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt fallen, „wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 [Kriegsverbrechen ...] fallen“. Dazu hat der EuGH ua ausgesprochen, dass der für einen solchen Fall vorgesehene Schutz grds sämtliche Militärangehörige erfasst, einschließlich des logistischen oder unterstützenden Personals.

EuGH 26. 2. 2015, C-472/13, Shepherd; zu einem deutschen Vorabentscheidungsersuchen

Sachverhalt

Herr Shepherd, ein Staatsangehöriger der Vereinigten Staaten, verpflichtete sich im Dezember 2003 in seinem Land zum Dienst in den US-Streitkräften mit einem aktiven Truppendienst von 15 Monaten. Er wurde zum Wartungstechniker für Hubschrauber ausgebildet und im September 2004 zum Air Support Battalion nach Katterbach (Deutschland) versetzt. Seine Einheit befand sich damals bereits im Einsatz im Irak, und er wurde deshalb zum Stützpunkt Camp Speicher bei Tikrit (Irak) weitergeleitet.

Von September 2004 bis Februar 2005 wartete er Hubschrauber, ohne unmittelbar an militärischen Aktionen oder an Kampfeinsätzen beteiligt zu sein.

Im Februar 2005 kehrte seine Einheit nach Deutschland zurück. Herr Shepherd verlängerte seine Dienstzeit und erhielt am 1. 4. 2007 einen erneuten Einsatzbefehl für den Irak. Bevor er aus Deutschland abreisen sollte, verließ er am 11. 4. 2007 die Armee, weil er sich an dem Krieg im Irak, den er für rechtswidrig hielt, und den dort seiner Auffassung nach begangenen Kriegsverbrechen nicht mehr beteiligen wollte. Er hielt sich bei einem Bekannten auf, bis er im August 2008 bei den zuständigen deutschen Behörden einen Asylantrag stellte. Zur Begründung seines Antrags machte er im Wesentlichen geltend, dass ihm wegen der Weigerung, seinen Militärdienst im Irak zu leisten, Strafverfolgung drohe und dass die Desertion, die aus amerikanischer Sicht ein Kapitalverbrechen sei, sein Leben einschränke, indem sie ihn in seinem Land sozialer Ächtung aussetze.

Herrn Shepherd droht eine Freiheitsstrafe von 100 Tagen bis zu 15 Monaten wegen Desertion, wobei der Strafrahmen bis zu 5 Jahren reicht.

Nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag abgelehnt hatte, ersuchte das vorlegende Gericht (Bayerisches Verwaltungsgericht München) den EuGH um die Auslegung der europäischen RL über den Flüchtlingsstatus (RL 2004/83/EG).

Entscheidung

Der EuGH hat für Recht erkannt:

1.Die Bestimmungen von Art 9 Abs 2 Buchst e der RL 2004/83/EG des Rates vom 29. 4. 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes sind dahin auszulegen,
  • dass sie alle Militärangehörigen einschließlich des logistischen und unterstützenden Personals erfassen,
  • dass sie den Fall betreffen, in dem der geleistete Militärdienst selbst in einem bestimmten Konflikt die Begehung von Kriegsverbrechen umfassen würde, einschließlich der Fälle, in denen der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrende Antragsteller nur mittelbar an der Begehung solcher Verbrechen beteiligt wäre, wenn es bei vernünftiger Betrachtung plausibel erscheint, dass er durch die Ausübung seiner Funktionen eine für die Vorbereitung oder Durchführung der Verbrechen unerlässliche Unterstützung leisten würde,
  • dass sie nicht ausschließlich Fälle betreffen, in denen feststeht, dass bereits Kriegsverbrechen begangen wurden oder vor den Internationalen Strafgerichtshof gebracht werden könnten, sondern auch solche, in denen der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrende Antragsteller darzulegen vermag, dass solche Verbrechen mit hoher Wahrscheinlichkeit begangen werden,
  • dass die allein den innerstaatlichen Behörden unter gerichtlicher Kontrolle obliegende Tatsachenwürdigung zur Einordnung der bei dem in Rede stehenden Dienst bestehenden Situation auf ein Bündel von Indizien zu stützen ist, das geeignet ist, in Anbetracht aller relevanten Umstände – insb der mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, sowie der individuellen Lage und der persönlichen Umstände des Antragstellers – zu belegen, dass die bei diesem Dienst bestehende Situation die Begehung der behaupteten Kriegsverbrechen plausibel erscheinen lässt,
  • dass bei der den innerstaatlichen Behörden obliegenden Würdigung zu berücksichtigen ist, dass eine militärische Intervention aufgrund eines Mandats des Sicherheitsrats der Organisation der Vereinten Nationen oder auf der Grundlage eines Konsenses der internationalen Gemeinschaft stattfindet, und dass der oder die die Operationen durchführenden Staaten Kriegsverbrechen ahnden, und
  • dass die Verweigerung des Militärdienstes das einzige Mittel darstellen muss, das es dem die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrenden Antragsteller erlaubt, der Beteiligung an den behaupteten Kriegsverbrechen zu entgehen, so dass der Umstand, dass er kein Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer angestrengt hat, jeden Schutz nach Art 9 Abs 2 Buchst e der RL 2004/83/EG ausschließt, sofern der Antragsteller nicht beweist, dass ihm in seiner konkreten Situation kein derartiges Verfahren zur Verfügung stand.
2.Die Bestimmungen von Art 9 Abs 2 Buchst b und c der RL 2004/83/EG sind dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht davon auszugehen ist, dass die einem Militärangehörigen wegen der Verweigerung des Dienstes drohenden Maßnahmen wie eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder die Entlassung aus der Armee angesichts der legitimen Ausübung des Rechts auf Unterhaltung einer Streitkraft durch den betreffenden Staat als in einem Maß unverhältnismäßig oder diskriminierend angesehen werden könnten, dass sie zu den von diesen Bestimmungen erfassten Verfolgungshandlungen gehören würden. Dies zu prüfen ist jedoch Sache der innerstaatlichen Behörden.

Hinweis:

Die RL 2004/83/EG wurde durch die RL 2011/95/EU mit Wirkung vom 21. 12. 2013 aufgehoben. Art 9 RL 2004/83/EG ist nunmehr in Art 9 RL 2011/95/EU geregelt.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 19041 vom 27.02.2015