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EuGH: Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters – „neue“ Kunden

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

RL 86/653/EWG: Art 17

Nach Art 17 Abs 2 Buchst a erster Gedankenstrich der RL 86/653/EWG hat der Handelsvertreter Anspruch auf einen Ausgleich, wenn und soweit er für den Unternehmer neue Kunden geworben oder die Geschäftsverbindungen mit vorhandenen Kunden wesentlich erweitert hat und der Unternehmer aus den Geschäften mit diesen Kunden noch erhebliche Vorteile zieht.

Als neu sind Kunden iS dieser Bestimmung auch dann anzusehen, wenn sie bereits wegen anderer Waren (hier: Brillengestelle unterschiedlicher Marken) Geschäftsverbindungen mit dem Unternehmer unterhielten, sofern der Handelsvertreter für den Verkauf der ihm übertragenen Waren (Marken) eine spezielle Geschäftsverbindung begründen musste. Dies hat das nationale Gericht zu prüfen.

Der geringere Aufwand für den Handelsvertreter beim Verkauf an Personen, die mit dem Unternehmer bereits in Geschäftsverbindungen stehen, kann vom nationalen Gericht im Rahmen der Prüfung der Billigkeit des Ausgleichs nach Art 17 Abs 2 zweiter Gedankenstrich RL 86/653/EWG vollständig berücksichtigt werden.

EuGH 7. 4. 2016, C-315/14, Marchon Germany

Sachverhalt

Zu einem deutschen Vorabentscheidungsersuchen.

Marchon (eine Großhändlerin von Brillengestellen) vertreibt eine Produktpalette von Brillengestellen verschiedener Modelle, Marken und Kollektionen an Optiker.

Zum Vertrieb ihrer Gestelle betraut Marchon eine Reihe von Handelsvertretern jeweils mit der Vermittlung des Verkaufs von Brillengestellen nicht der gesamten Produktpalette, sondern nur solcher einer oder mehrerer bestimmter Marken. Jeder Handelsvertreter steht in einem bestimmten Gebiet im Wettbewerb zu anderen Handelsvertretern, denen Marchon den Vertrieb von Brillengestellen ihrer anderen Marken übertragen hat.

Frau Karaszkiewicz war von September 2008 bis Juni 2009 als Handelsvertreterin für Marchon tätig und mit dem Vertrieb von Brillengestellen der Marken C.K. und F. betraut. Marchon hatte ihr zu diesem Zweck eine Liste mit Optikern zur Verfügung gestellt, mit denen sie bereits in Bezug auf Brillengestelle anderer Marken Geschäftsverbindungen unterhielt. Frau Karaszkiewicz vermittelte den Verkauf der ihr zugewiesenen Brillengestelle überwiegend an diese Optiker.

Nach der Beendigung ihres Vertrags verlangte Frau Karaszkiewicz von Marchon eine Ausgleichszahlung für Kunden gem § 89b dHGB. Strittig ist, ob die Optiker, die aufgrund ihrer Einschaltung erstmals Brillengestelle der Marken C.K. oder F. bezogen, als Neukunden iS dieser Bestimmung anzusehen sind, auch wenn sie bereits auf der Kundenliste standen, die ihr Marchon zur Verfügung gestellt hat.

Entscheidung

„Neuer Kunde“

Der EuGH hält zunächst ua fest, dass der Begriff „neuer Kunde“ iSd Art 17 Abs 2 RL 86/653/EWG nicht eng ausgelegt werden darf:

Die Beurteilung, ob es sich um einen neuen oder um einen vorhandenen Kunden handelt, hat anhand der Waren zu erfolgen hat, mit deren Vermittlung der Handelsvertreter vom Unternehmer beauftragt wurde und deren An- oder Verkauf er gegebenenfalls tätigen soll.

Im vorliegenden Fall wurde der Handelsvertreter nach dem Wortlaut seines Handelsvertretervertrags nur mit der Vermittlung des Verkaufs eines Teils der Warenpalette des Unternehmers betraut. Dass ein Kunde mit dem Unternehmer bereits wegen anderer Waren Geschäftsverbindungen unterhielt, schließt es nach Ansicht des EuGH daher nicht aus, dass diese Person als neuer Kunde angesehen werden kann, wenn es dem Handelsvertreter durch seine Bemühungen gelungen ist, eine Geschäftsverbindung zwischen dieser Person und dem Unternehmer in Bezug auf diese Waren zu begründen, mit deren Vertrieb er beauftragt wurde.

Markenführung

Dem Argument des Unternehmens, die bereits vertriebenen und die neu vermittelten Brillengestelle entsprächen einander und seien lediglich von anderen Marken, hält der EuGH entgegen, dass es in Anbetracht der vorliegenden Umstände nicht allein ausreichen kann, dass die Waren ihrer Art nach vergleichbar sind. Vielmehr sei zu prüfen, ob der Vertrieb der Waren von Seiten des Handelsvertreters Vermittlungsbemühungen und eine besondere Verkaufsstrategie im Hinblick auf die Begründung einer speziellen Geschäftsverbindung erfordert hat, insb soweit diese Waren zu einem anderen Teil der Produktpalette des Unternehmers gehören.

Der Umstand, dass der Unternehmer einem Handelsvertreter den Vertrieb neuer Waren an Kunden anvertraut, mit denen er bereits bestimmte Geschäftsverbindungen unterhält, kann ein Indiz dafür sein, dass diese Waren zu einem anderen Teil der Produktpalette gehören als die Waren, die diese Kunden bisher gekauft hatten, und dass der Vertrieb dieser neuen Waren an diese Kunden die Begründung einer speziellen Geschäftsverbindung durch den Handelsvertreter erfordert. Dies hat das nationale Gericht zu prüfen.

Dies wird nach Ansicht des EuGH dadurch bestätigt, dass der Vertrieb von Waren im Allgemeinen je nach den Marken, mit denen sie gekennzeichnet sind, in einem anderen Rahmen stattfindet. In diesem Zusammenhang hat der EuGH bereits festgestellt, dass eine Marke häufig neben einem Hinweis auf die Herkunft der Waren oder Dienstleistungen ein Instrument der Geschäftsstrategie darstellt, das ua zu Werbezwecken oder zum Erwerb eines Rufes eingesetzt wird, um den Verbraucher zu binden (vgl C-323/09, Interflora und Interflora British Unit, EU:C:2011:604, Rn 39, LN Rechtsnews 11739 vom 23. 9. 2011 = RdW 2011/687).

Dass das Warenangebot des Unternehmers nach verschiedenen Marken unterteilt ist und jeder seiner Handelsvertreter mit der Absatzvermittlung nur einer oder einiger dieser Marken betraut ist, kann – so der EuGH – darauf hindeuten, dass diese Handelsvertreter mit jedem Kunden eine für die Marken, für die sie beauftragt sind, spezifische Geschäftsverbindung begründen müssen.

Höhe des Ausgleichsanspruchs

Zum Vorbringen von Marchon, dass es für den Handelsvertreter einfacher sei, neue Waren an Personen zu veräußern, die mit dem Unternehmer bereits in Geschäftsverbindungen stünden, hält der EuGH fest, dass diese Behauptung vom nationalen Gericht im Rahmen der Prüfung der Billigkeit des Ausgleichs nach Art 17 Abs 2 zweiter Gedankenstrich RL 86/653/EWG vollständig berücksichtigt werden kann (vgl C-203/09, Volvo Car Germany, EU:C:2010:647, Rn 44, ARD 6100/9/2010).

Der EuGH hat für Recht erkannt:

Art 17 Abs 2 Buchst a erster Gedankenstrich der RL 86/653/EWG des Rates vom 18. 12. 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbstständigen Handelsvertreter ist dahin auszulegen, dass die von einem Handelsvertreter für Waren geworbenen Kunden, mit deren Vertrieb ihn der Unternehmer beauftragt hat, auch dann als neue Kunden iS dieser Bestimmung anzusehen sind, wenn sie bereits wegen anderer Waren Geschäftsverbindungen mit dem Unternehmer unterhielten, sofern der Verkauf der erstgenannten Waren durch diesen Handelsvertreter die Begründung einer speziellen Geschäftsverbindung erfordert hat, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 21419 vom 08.04.2016