News

EuGH: Kronzeugenregelungen der EU und der Mitgliedstaaten

Bearbeiter: Sabine Kriwanek

AEUV Art 101

VO (EG) 1/2003: Art 1 ff

Die im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes (ECN) beschlossenen Instrumente, insb das Kronzeugenregelungsmodell dieses Netzes, sind für die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht verbindlich.

Die Koexistenz und die Eigenständigkeit, die die Beziehungen zwischen der Kronzeugenregelung der Union und den Kronzeugenregelungen der Mitgliedstaaten kennzeichnen, sind Ausdruck des durch die VO (EG) 1/2003 [des Rates vom 16. 12. 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln] errichteten Systems paralleler Zuständigkeiten der Kommission und der nationalen Wettbewerbsbehörden.

EuGH 20. 1. 2016, C-428/14, DHL Express (Italy) und DHL Global Forwarding (Italy)

Sachverhalt

Zu einem italienischem Vorabentscheidungsersuchen.

Im Rahmen des ECN wurde im Jahr 2006 ein Kronzeugenregelungsmodell (ECN-Kronzeugenregelungsmodell) angenommen.

Im Februar 2007 erließ die Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (italienische Wettbewerbs- und Kartellbehörde, AGCM) eine nationale Regelung, in der ein „Kurzantrag“ auf Kronzeugenbehandlung vorgesehen war.

In den Jahren 2007 und 2008 stellten DHL Express (Italy) sowie DHL Global Forwarding (Italy), Agility Logistics und Schenker Italiana bei der Kommission und der AGCM gesondert Anträge auf Erlass bzw Ermäßigung der Geldbußen betr mehrerer Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht der Union sowie teilweise auf Kronzeugenbehandlung.

Am 15. 6. 2011 stellte die AGCM fest, dass mehrere Unternehmen, darunter DHL, Schenker und Agility, unter Verstoß gegen Art 101 AEUV an einem Kartell auf dem Sektor der internationalen Straßenfrachtverkehrsdienste von und nach Italien beteiligt waren. In dieser Entscheidung ging die AGCM davon aus, dass Schenker das erste Unternehmen gewesen sei, das in Italien einen Antrag auf Erlass der Geldbuße hinsichtlich des Straßenfrachtverkehrs gestellt habe. In Anwendung der nationalen Kronzeugenregelung wurde gegen Schenker keine Geldbuße verhängt. DHL und Agility wurden hingegen zur Zahlung von Geldbußen verurteilt, die in der Folge gegenüber ihrem ursprünglichen Betrag um 49 % bzw 50 % herabgesetzt wurden.

DHL erhob bei den italienischen Gerichten Klage auf teilweise Nichtigerklärung der Entscheidung der AGCM. Das Unternehmen brachte insb vor, dass ihm auf der Liste der nationalen Kronzeugenregelung zu Unrecht nicht der erste Rang zugeteilt worden sei und sie daher nicht in den Genuss des Erlasses der Geldbuße gekommen sei. Die nationale Behörde, bei der ein Kurzantrag auf Kronzeugenbehandlung eingehe, sei nach den Grundsätzen des Unionsrechts verpflichtet, diesen unter Berücksichtigung des von derselben Gesellschaft bei der Kommission gestellten Hauptantrags auf Erlass der Geldbuße zu würdigen.

Das vorlegende Gericht ersucht den EuGH um Auslegung des Unionsrechts hinsichtlich des Verhältnisses zwischen den verschiedenen Verfahren, die innerhalb des ECN nebeneinander existieren.

Entscheidung

Der EuGH hat für Recht erkannt:

1.Die Bestimmungen des Unionsrechts, insb Art 101 AEUV und die VO (EG) 1/2003 des Rates vom 16. 12. 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 AEUV] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln, sind dahin auszulegen, dass die im Rahmen des Europäischen Wettbewerbsnetzes beschlossenen Instrumente, insb das Kronzeugenregelungsmodell dieses Netzes, für die nationalen Wettbewerbsbehörden nicht verbindlich sind.
2.Die Bestimmungen des Unionsrechts, insb Art 101 AEUV und die VO (EG) 1/2003, sind dahin auszulegen, dass zwischen dem Antrag auf Erlass der Geldbuße, den ein Unternehmen bei der Europäischen Kommission eingereicht hat oder im Begriff ist einzureichen, und dem für dasselbe Kartell bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde eingereichten Kurzantrag kein rechtlicher Zusammenhang besteht, der diese Behörde verpflichtet, den Kurzantrag im Licht des Antrags auf Erlass der Geldbuße zu beurteilen. Ob der Kurzantrag dem bei der Kommission gestellten Antrag inhaltlich genau entspricht oder nicht, ist hierbei ohne Belang.
Ist der inhaltliche Umfang des bei einer nationalen Wettbewerbsbehörde gestellten Kurzantrags enger als der des bei der Kommission gestellten Antrags auf Erlass der Geldbuße, so ist diese nationale Behörde nicht verpflichtet, die Kommission oder das Unternehmen selbst zu kontaktieren, um sich zu vergewissern, ob dieses Unternehmen das Vorliegen konkreter Beispiele für rechtswidrige Verhaltensweisen auf dem Sektor festgestellt hat, d[ie] angeblich vom Antrag auf Erlass der Geldbuße, nicht aber vom Kurzantrag umfasst [sind].
3.Die Bestimmungen des Unionsrechts, insb Art 101 AEUV und die VO (EG) 1/2003, sind dahin auszulegen, dass sie eine nationale Wettbewerbsbehörde nicht daran hindern, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einen Kurzantrag auf Erlass der Geldbuße eines Unternehmens entgegenzunehmen, das bei der Kommission keinen Antrag auf vollständigen Erlass, sondern auf Ermäßigung der Geldbuße gestellt hat.
Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 20954 vom 21.01.2016