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Kein Verwaltungsstrafverfahren nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens nach § 190 StPO

Bearbeiter: Manfred Lindmayr

ASchG § 130 Abs 5

StGB § 88

StPO § 190

Wurde nach einem Arbeitsunfall (Absturz eines ungesicherten Arbeitnehmers aus 12 m Höhe) in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen den Arbeitgeber (wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung) nach Auseinandersetzung mit den Sorgfaltspflichten des Arbeitgebers dessen Verschulden mit ausführlicher Begründung verneint und das Ermittlungsverfahren gemäß § 190 Z 1 StPO rechtskräftig eingestellt, ist eine Verfolgung des Arbeitgebers in einem Verwaltungsstrafverfahren nach dem ASchG (wegen der Übertretung arbeitnehmerschutzrechtlicher Vorschriften) unzulässig. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft entfaltet in diesem Fall Sperrwirkung im Sinne des Doppelbestrafungsverbots.

VwGH 29. 5. 2015, 2012/02/0238

Sachverhalt

Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft wurde der Mitbeteiligte als Arbeitgeber einer Übertretung des § 130 Abs 5 ASchG iVm § 7 Abs 1 BauV für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe verurteilt, weil einer seiner Arbeitnehmer auf einer Baustelle bei einer Absturzhöhe von 12 m ohne Absturzsicherung gearbeitet habe und bei einem Absturz verletzt wurde. Wenige Wochen zuvor wurde das wegen desselben Arbeitsunfalls eingeleitete Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft gegen den Arbeitgeber wegen des Verdachts der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 StGB gemäß § 190 Z 1 StPO mit der Begründung eingestellt, dass ein sorgfaltswidriges Verhalten nicht vorliege. Bei auswärtigen Baustellen, auf denen sich der Arbeitgeber nicht im erforderlichen Ausmaß selbst aufhält, sehe § 3 ASchG eine Übertragung der Pflicht zur Einhaltung der Schutzbestimmungen auf eine geeignete Person vor. Der Bauleiter hingegen sei nicht verpflichtet, ständig die Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen zu kontrollieren.

Daraufhin wurde das Straferkenntnis über Berufung des Arbeitgebers, in der erstmals die Benachrichtigung über die Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens vorgelegt wurde, aufgehoben und das Verwaltungsstrafverfahren eingestellt. Dies sei nach Ansicht der Behörde geboten, weil die Verhängung einer Verwaltungsstrafe zu einer unzulässigen Doppelbestrafung des Arbeitgebers geführt habe.

Dagegen richtet sich die Amtsbeschwerde des BMASK.

Entscheidung

1. Dieselbe strafbare Handlung

Mit Blick auf das Doppelbestrafungsverbot des Art 4 7. ZPEMRK („ne bis in idem-Prinzip“) war im vorliegenden Fall zunächst zu klären, ob die strafgerichtlich verfolgte Tathandlung (fahrlässige Körperverletzung nach § 88 StGB) einerseits und die verwaltungsstrafrechtliche Übertretungshandlung nach § 130 Abs 5 ASchG (iVm § 7 Abs 1 BauV) andererseits überhaupt dieselbe strafbare Handlung (idem) betreffen.

Dies hat bereits der VfGH im Rahmen eines Gesetzesprüfungsverfahrens bejaht (VfGH 7. 10. 1998, G 51/97, ARD 5011/7/99) und der VwGH schließt sich diesem Ergebnis im vorliegenden Fall an: Im Zentrum beider Strafbestimmungen (§ 130 ASchG und § 88 StGB) stehe derselbe Vorwurf, nämlich die (fahrlässige) Außerachtlassung der arbeitnehmerschutzrechtlichen Bestimmungen. Damit umfasse die strafrechtliche Anklage die Fakten der Verwaltungsstraftat in ihrer Gesamtheit und gehe sogar noch um ein weiteres Element (den Erfolgseintritt der Körperverletzung) über die Verwaltungsstraftat hinaus. Auch könne nicht davon die Rede sein, dass der Unrechtsgehalt, der im Straftatbestand des § 88 StGB zum Ausdruck kommt, von jenem des § 130 ASchG in einem wesentlichen Element abweiche und damit wesentlich verschieden wäre.

2. Wirkung der Einstellung nach § 190 StPO

In einem zweiten Schritt hatte der VwGH nun zu klären, ob die Einstellung durch die Staatsanwaltschaft nach § 190 Z 1 StPO Sperrwirkung im Sinne des „ne bis in idem-Prinzips“ entfaltete und die belangte Behörde daher zur Hintanhaltung einer Verletzung des Art 4 Abs 1 7. ZPEMRK verpflichtet war, das bei ihr anhängige Verwaltungsstrafverfahren einzustellen.

Auch diese Frage bejaht er zusammengefasst mit folgender Begründung:

2.1. Rechtskräftige Entscheidung

Art 4 Abs 1 7. ZPEMRK verbietet die Wiederholung eines Strafverfahrens, das mit einer endgültigen Entscheidung beendet worden ist. Eine Entscheidung - Freispruch oder Verurteilung - ist dann als endgültig („final“) anzusehen, wenn sie die Wirkung einer res iudicata erlangt hat. Das ist der Fall, wenn sie unwiderruflich ist, dh wenn keine ordentlichen Rechtsmittel mehr vorhanden sind, alle Rechtsmittel ergriffen wurden oder Rechtsmittelfristen ergebnislos verstrichen sind. Wann eine Entscheidung als rechtskräftig anzusehen ist, ist nach innerstaatlichem Recht zu beurteilen, wie wohl dabei von einem autonomen Verständnis des Begriffs „Rechtskraft“ auszugehen ist, das sich am traditionellen Begriffsbild im Sinne von Unwiderruflichkeit orientiert. Die Möglichkeit der Erhebung außerordentlicher Rechtsmittel - wie einer Wiederaufnahme - ändert hingegen nichts an der Rechtskraft einer Entscheidung. Art 4 7. ZPEMRK verbietet nicht die gleichzeitige Führung mehrerer Strafverfahren, wenn das zweite Verfahren nach endgültiger Beendigung des ersten Verfahrens eingestellt wird.

Auch eine Einstellung kann unter bestimmten Bedingungen eine rechtskräftige Entscheidung darstellen (vgl zB VfGH 2. 7. 2009, B 559/08, LN Rechtsnews 7857 vom 22. 9. 2009, betr Rücktritt der Staatsanwaltschaft von der Anklage vor Beginn der Hauptverhandlung gemäß § 227 Abs 1 StPO, weil hier eine Fortsetzung des Strafverfahrensaußer durch Erhebung einer Subsidiaranklage nur unter den Voraussetzungen des § 352 Abs 1 StPO (Wiederaufnahme) möglich wäre). Auch der OGH hat - unter Bezugnahme auf EuGH 22. 12. 2008, C-491/07, Turansky, LN Rechtsnews 6350 vom 9. 1. 2009 - eine Einstellung durch die Staatsanwaltschaft als Aburteilung in der Sache gewertet, wenn sie einen Strafanklageverbrauch bewirkt, also das Verfahren nur unter den Bedingungen und Förmlichkeiten einer Wiederaufnahme fortgesetzt werden kann (vgl OGH 17. 9. 2013, 11 Os 73/13i, LN Rechtsnews 16006 vom 15. 10. 2013).

2.2. Änderung der Rechtslage

Zu § 90 StPO idF vor BGBl I 2004/19 („StPO alt“) hat der VwGH in stRsp die Ansicht vertreten, dass die Zurücklegung einer Anzeige noch nicht dazu führt, dass eine Verfolgung einer Verwaltungsübertretung aus dem Grunde des Art 4 Abs 1 7. ZPEMRK ausgeschlossen ist (vgl VwGH 29. 4. 2008, 2007/05/0125).

Mit dem Strafprozessreformgesetz, BGBl I 2004/19, ist § 90 StPO alt mit 1. 1. 2008 außer Kraft getreten und wurde die Beendigung des Ermittlungsverfahren in den §§ 190-197 StPO neu geregelt. Demnach ist ein Verfahren nach § 190 Z 1 StPO dann einzustellen, wenn die dem Ermittlungsverfahren zu Grunde liegende Tat nicht mit gerichtlicher Strafe bedroht ist oder sonst die weitere Verfolgung des Beschuldigten aus rechtlichen Gründen unzulässig wäre.

Die Materialien zur Strafprozessreform (RV 25 BlgNR 22. GP, 229 ff) führen zu § 190 StPO folgendes aus: „Im Fall des § 190 handelt es sich um die prozessuale Entscheidung über das Anklagerecht, die ausschließlich der Staatsanwaltschaft zusteht und die - abgesehen von der Möglichkeit der Fortführung des Verfahrens nach § 193 - Sperrwirkung im Sinne des 'ne bis in idem-Prinzips' entfaltet. Eine Fortsetzung ('Wiederaufnahme') des Verfahrens soll daher auch weiterhin grundsätzlich nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig sein; der Anwendungsbereich der sogenannten formlosen Wiederaufnahme (§ 363 StPO) soll gegenüber dem geltenden Recht eingeschränkt werden. Die Staatsanwaltschaft ist zunächst - selbstverständlich und ohne dass dies einer besonderen Erwähnung im Text bedürfte - verpflichtet, den Sachverhalt zu klären (dh mögliche be- und entlastende Umstände zu ermitteln) und soll danach - wenn kein weiterer Ansatzpunkt für erfolgversprechende Ermittlungen gegeben ist - gemäß Abs 1 das Ermittlungsverfahren einzustellen haben, wenn der Gegenstand des Verfahrens keine gerichtlich strafbare Handlung darstellt oder ein rechtlicher Grund (Z 1) oder ein tatsächlicher Grund der (weiteren) Verfolgung des Beschuldigten entgegensteht (Z 2). (...)“

Die Fortführung eines nach § 190 StPO eingestellten Ermittlungsverfahrens kann die Staatsanwaltschaft gemäß § 193 Abs 2 StPO anordnen, solange die Strafbarkeit der Tat nicht verjährt ist und wenn der Beschuldigte wegen dieser Tat nicht vernommen (§ 164, § 165 StPO) und kein Zwang gegen ihn ausgeübt wurde (Z 1) oder neue Tatsachen oder Beweismittel entstehen oder bekannt werden, die für sich allein oder im Zusammenhalt mit übrigen Verfahrensergebnissen geeignet erscheinen, die Bestrafung des Beschuldigten oder ein Vorgehen nach dem 11. Hauptstück der StPO (Rücktritt von der Verfolgung - Diversion) zu begründen (Z 2). Ansonsten ist eine Fortführung nur auf fristgerechten Antrag des Opfers nach den Voraussetzungen des § 195 Abs 1 StPO möglich.

Dies wurde bereits vom OGH bestätigt (vgl OGH 21. 8. 2013, 15 Os 94/13g, LN Rechtsnews 16219 vom 15. 11. 2013) und auch in der Lehre wird mehrheitlich davon ausgegangen, dass verfahrensbeendende Einstellungen insoweit einem rechtskräftigen Freispruch iSd Art 4 7. ZPEMRK gleichzuhalten sind und Sperrwirkung entfalten können, als sie Bestand haben und nicht bloß aus formalen Gründen erfolgen (mangelnde Verfolgbarkeit der Tat wegen Verjährung oder Unzuständigkeit) oder nur vorläufiger Natur sind, sondern auf einer inhaltlichen (sachverhaltsbezogenen) Prüfung des Vorwurfs basieren (siehe ua Nordmeyer, WK-StPO § 190 Rz 26 ff). Dabei kommt es darauf an, ob der Beschuldigte nach den Bestimmungen der StPO davon benachrichtigt werden musste und die einschreitenden Sicherheitsbehörden bei ihren Ermittlungen zur Erhärtung des Verdachts auf gerichtlichen Befehl hin tätig werden, weil erst diesfalls ein Verfahren iSd Art 4 7. ZPEMRK ausgelöst wird.

2.3. Bindungswirkung

Vor diesem Hintergrund lässt sich die Judikatur des VwGH zu § 90 StPO alt nicht ohne weiteres auf § 190 StPO übertragen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Frage der Bindungswirkung anhand des Prüfungsumfangs der wesentlichen Elemente des tatbeständlichen Sachverhalts im Einzelfall zu beurteilen ist.

Zusammengefasst ist daher im Fall einer Einstellung

-zunächst zu prüfen, ob sie (formell und materiell) rechtskräftig im Sinne von unwiderruflich geworden ist, somit keine formlose Fortführungsmöglichkeit mehr besteht und daher ein Anklageverbrauch stattgefunden hat.
-In einem zweiten Schritt mit Blick auf den Umfang einer Sperrwirkung ist zu prüfen, auf welcher inhaltlichen Basis und aufgrund welcher Prüfungstiefe diese Entscheidung ergangen ist. Eine Bindungswirkung wird nur hinsichtlich jener Fakten anzunehmen sein, die auch den Ausgangspunkt des vorangegangenen Strafverfahrens gebildet haben.

Von daher steht diesem Ergebnis im Übrigen auch die frühere Judikatur des VwGH zu § 90 StPO alt nicht entgegen, wonach Einstellungen nicht ohne weiteres, sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen Bindungswirkung entfalten.

3. Einstellung erfolgte zu Recht

Für den vorliegenden Fall bejahte der VwGH alle Bedingungen für eine Sperrwirkung:

-Im Entscheidungszeitpunkt der belangten Behörde war nach der Einstellung keine formlose Fortführung des Ermittlungsverfahrens mehr möglich, weil der Arbeitgeber als Beschuldigter iSd § 193 Abs 2 Z 1 StPO wegen derselben Tat vernommen worden war, nach der Aktenlage keine Anordnung der Fortführung des Verfahrens nach § 193 Abs 2 Z 2 StPO erfolgt ist sowie auch die Frist für einen Fortführungsantrag des Opfers bereits abgelaufen war (§ 195 Abs 2 StPO) und auch in dieser Hinsicht keine Anordnung der Fortführung durch die Staatsanwaltschaft nach § 195 Abs 3 StPO erfolgt ist.
-Zudem wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens dasselbe Faktensubstrat wie im Verwaltungsstrafverfahren geprüft und nach Auseinandersetzung mit den Sorgfaltspflichten des Mitbeteiligten als Arbeitgeber dessen Verschulden mit ausführlicher Begründung verneint. Damit hat auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den wesentlichen Tatbestandselementen stattgefunden und somit ist eine inhaltliche Entscheidung erfolgt, welche die Qualität eines Freispruchs iSd Art 4 7. ZPEMRK erreicht.

Die Einstellung des Strafverfahrens gegen den Arbeitgeber durch die Staatsanwaltschaft hat demnach Sperrwirkung für das vorliegende Verwaltungsstrafverfahren entwickelt, eine weitere Verfolgung im Verwaltungsstrafverfahren war daher unzulässig. Dies hat die belangte Behörde zutreffend erkannt und daher das erstinstanzliche Straferkenntnis aufgehoben und das Verwaltungsstrafverfahren gegen den Arbeitgeber zu Recht eingestellt.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 19793 vom 02.07.2015