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Verbandsprozess – keine ergänzende Vertragsauslegung

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

KSchG: § 6, § 28, § 28a, § 29

1. Trotz der im Schrifttum geäußerten Bedenken hält der Fachsenat an der E 7 Ob 11/14i (Rechtsnews 17297 = RdW 2014/508) fest: Im Verbandsprozess kann nicht geklärt werden, ob nach Nichtigerklärung einer Vertragsklausel eine ergänzende Vertragsauslegung zulässig ist. Die Zulässigkeit und gegebenenfalls der Inhalt einer zur Lückenfüllung vorzunehmenden ergänzenden Vertragsauslegung muss mangels Einigung der Parteien dem Gericht vorbehalten bleiben und erforderlichenfalls im Individualprozess geklärt werden.

2. Nach Nichtigerkärung bestimmter Klauseln versandte der Versicherer im vorliegenden Fall Massenschreiben an seine Kunden, die als „allgemeine Geschäftsbedingungen“ bzw „Vertragsformblätter“ zu werten sind und in denen er den unrichtigen Eindruck erweckte, er dürfe nun auf Basis gesicherter Rechtslage durch einseitige Willenserklärung die nichtigen Klauseln (hier betr Prämienanpassung) mit konstitutiver Wirkung ergänzen (hier noch dazu verschärfend) und auf diese Weise rechtmäßig eine Zahlungspflicht ableiten, der sich der Versicherungsnehmer nur durch einen Prozess entziehen könne. Damit wird die Rechtslage betr eine etwaig erforderliche ergänzende Vertragsauslegung jedoch unrichtig dargestellt und der Versicherungsnehmer insb durch Androhung der Notwendigkeit eines Rechtsstreits dahin unter Druck gesetzt, sich dem einseitig vorgetragenen Standpunkt des Versicherers zu fügen. Es liegt daher jedenfalls ein Verstoß gegen das Transparenzgebot des § 6 Abs 3 KSchG vor.

OGH 21. 3. 2018, 7 Ob 168/17g

Entscheidung

Schreiben mit „Klausel NEU“

Mit der E OGH 9. 4. 2015, 7 Ob 62/15s (= Rechtsnews 19686 = RdW 2015/499) wurde die Bekl schuldig erkannt, im geschäftlichen Verkehr mit Verbrauchern die Verwendung bestimmter Klauseln in AGB und Vertragsformblättern bzw die Berufung darauf zu unterlassen, soweit sie unzulässigerweise vereinbart worden sind. Diese Klauseln verpflichteten den Versicherungsnehmer zur Wertanpassung, wofür kein schutzwürdiges Interesse des Versicherers besteht, weil nicht nur die Prämie, sondern auch die Versicherungssumme gleichermaßen der Inflation unterliegt und sich daher die Äquivalenz nicht verschiebt.

Nach Zustellung dieses Urteils wandte sich die Bekl an ihre Kunden. Mit einem an „Sehr geehrte(r) Kundin(e)“ gerichteten Schreiben teilte sie ua mit, dass

- sie sich gegenüber Verbrauchern auf die bisher vereinbarte Wertanpassungsklausel nicht mehr berufen und diese Regelung der ARB oder sinngleiche Klauseln nicht mehr verwenden dürfe und

- aus ihrer Sicht „nun eine ergänzende Vertragsauslegung zur Anpassung von Prämie und Versicherungssumme zu erfolgen [hat]“.

Auf der Rückseite des Schreibens druckte die Bekl eine „Klausel NEU“ ab, in der ua die Modalitäten der Wertanpassung genau beschrieben werden, im Gegensatz zur Bedingungslage des Vorprozesses aber die bisherige Möglichkeit des Kunden zur Kündigung bloß der Wertanpassung nicht mehr besteht.

Entfall der nichtigen Klauseln

Der Fachsenat hat in einem vergleichbaren Fall zu 7 Ob 11/14i das Vorliegen einer gesetzwidrigen Geschäftspraxis erkannt und die Rechtsansicht vertreten, dass die Frage, ob im Licht der Judikatur des EuGH nach Nichtigerklärung einer Vertragsklausel eine ergänzende Vertragsauslegung zulässig ist, nicht im Verbandsprozess geklärt werden könne. Die Zulässigkeit und gegebenenfalls der Inhalt einer zur Lückenfüllung vorzunehmenden ergänzenden Vertragsauslegung müssten mangels Einigung der Parteien dem Gericht vorbehalten bleiben und erforderlichenfalls im Individualprozess geklärt werden.

Der Fachsenat hält trotz der im Schrifttum geäußerten Bedenken an dem zu 7 Ob 11/14i gewonnenen Ergebnis fest:

Die Bekl geht im Wesentlichen davon aus, dass das von der Kl beanstandete Schreiben mit der „Klausel NEU“ zur Klarstellung der Rechtslage notwendig sei und damit die vom Fachsenat in der Entscheidung im Vorprozess vertretene Rechtsansicht umgesetzt werde.

Dem hält der OGH zunächst entgegen, dass die Rechtslage nach dem Vorprozess insofern völlig zweifelsfrei klargestellt ist, als die dort als nichtig erkannten Klauseln unwirksam sind, ersatzlos entfallen (7 Ob 11/14i) und daher nicht mehr Teil des Vertrags mit den betreffenden Versicherungsnehmern sind.

Ob sich bei Unwirksamkeit einer Klausel, die dispositives Recht abbedingen sollte, die Vertragslücke insofern ipso iure schließt, als wieder dispositives Recht an die Stelle der weggefallenen vertraglichen Vereinbarung tritt, ist hier nicht zu beurteilen. Auf eine solche dispositive gesetzliche Regelung beruft sich die Bekl nämlich nicht; sie stützt sich vielmehr auf eine vermeintlich zulässige einseitig vorgegebene „ergänzende Vertragsauslegung“ zum Zweck der Schließung der nach dem Entfall der Klauseln entstandenen „Vertragslücke“.

Verstoß gegen das Transparenzgebot

Der Vorwurf gegenüber der Bekl besteht – entgegen der im Schrifttum verschiedentlich vertretenen Ansicht – nicht nur darin, bislang ungeklärte oder zweifelhafte Ansprüche geltend zu machen, die allein die Bekl nach eigenem Auslegungsverständnis für berechtigt, angemessen und rechtsrichtig hält.

Der Bekl ist vielmehr anzulasten, dass sie ihren Versicherungsnehmern nicht etwa eine Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen anbietet, sondern den Eindruck erweckt, sie könne sich auf eine gesicherte Rechtslage stützen, durch einseitige Willenserklärung mit konstitutiver Wirkung die für nichtig erkannten Klauseln ergänzen und auf diese Weise rechtmäßig eine Zahlungspflicht ableiten, der sich der Versicherungsnehmer nur durch einen Prozess entziehen könne.

Damit wird die Rechtslage zur Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens unrichtig dargestellt und der Versicherungsnehmer insb durch Androhung der Notwendigkeit eines Rechtsstreits dahin unter Druck gesetzt, sich dem einseitig vorgetragenen Standpunkt der Bekl zu fügen, noch dazu – im Gegensatz zur Bedingungslage des Vorprozesses verschärfend – ohne Möglichkeit, sich der Prämienanpassung zu entziehen. Durch diese unrichtige Darstellung der Sach- und Rechtslage verstößt die Bekl in ihren auch als „allgemeine Geschäftsbedingungen“ bzw „Vertragsformblätter“ zu wertenden Schreiben jedenfalls gegen das Transparenzgebot des § 6 Abs 3 KSchG.

Damit erwiesen sich hier die Begehren der Kl nach §§ 28, 28a KSchG als berechtigt (zur Möglichkeit der Überschneidung der Anwendungsbereiche dieser Bestimmungen vgl 4 Ob 143/14d, Rechtsnews 18435 = RdW 2015/18).

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 25412 vom 14.05.2018