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EuGH: Europäischer Haftbefehl – Zweifel an Unabhängigkeit der Justiz

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

EUV: Art 2, Art 7

GRC: Art 47

Rahmenbeschluss 2002/584/JI idF Rahmenbeschluss 2009/299/JI: Art 1

Hat der Europäische Rat unter den Voraussetzungen des Art 7 Abs 2 EUV auf begründeten Vorschlag eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Grundsätze des Art 2 EUV wie derjenigen, die der Rechtsstaatlichkeit inhärent sind, im Ausstellungsmitgliedstaat festgestellt und die Anwendung des Rahmenbeschlusses 2002/584 gegenüber diesem Mitgliedstaat ausgesetzt, müsste die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen dieses Mitgliedstaats ohne Weiteres ablehnen, ohne in irgendeiner Weise konkret prüfen zu müssen, ob die betroffene Person der echten Gefahr ausgesetzt ist, dass ihr Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt angetastet wird.

Hat der Europäische Rat noch keinen entsprechenden Beschluss erlassen, verfügt die vollstreckende Justizbehörde aber über Anhaltspunkte (wie diejenigen in einem begründeten Vorschlag nach Art 7 Abs 1 EUV), dass im Ausstellungsmitgliedstaat wegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz eine echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren gem Art 47 Abs 2 der Charta besteht, muss die vollstreckende Justizbehörde konkret und genau prüfen, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation des Betroffenen sowie der Art der Straftat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene im Ausstellungsmitgliedstaat einer echten Gefahr ausgesetzt sein wird, dass sein Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit der Wesensgehalt seines Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird.

EuGH 25. 7. 2018, C-216/18 PPU, Minister for Justice and Equality (Défaillances du système judiciaire)

Zu einem irischen Vorabentscheidungsersuchen.

Entscheidung

Im Rahmen einer solchen Prüfung muss die vollstreckende Justizbehörde ua untersuchen, inwieweit sich die systemischen oder allgemeinen Mängel hinsichtlich der Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats auf der Ebene der Gerichte auswirken können, die für die Verfahren gegen die gesuchte Person zuständig sind.

Ergibt diese Untersuchung, dass die besagten Mängel diese Gerichte berühren können, muss die vollstreckende Justizbehörde noch im Licht der konkreten Bedenken der betroffenen Person beurteilen, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person in Anbetracht ihrer persönlichen Situation sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, einer echten Gefahr ausgesetzt sein wird, dass ihr Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht verletzt und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird.

Außerdem muss die vollstreckende Justizbehörde gem Art 15 Abs 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die ausstellende Justizbehörde um alle zusätzlichen Informationen ersuchen, die sie für notwendig hält, um das Bestehen einer solchen Gefahr zu beurteilen. Im Rahmen eines solchen Dialogs kann die ausstellende Justizbehörde der vollstreckenden Justizbehörde gegebenenfalls jeden objektiven Gesichtspunkt bezüglich etwaiger Änderungen betr die Garantie richterlicher Unabhängigkeit im Ausstellungsmitgliedstaat mitteilen, die das Bestehen der besagten Gefahr für die betroffene Person ausschließen können. Die ausstellende Justizbehörde kann erforderlichenfalls auch auf die Unterstützung der oder einer der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats iSv Art 7 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zurückgreifen (vgl in diesem Sinne EuGH 5. 4. 2016, Aranyosi und Căldăraru, C-404/15 und C-659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn 97, Rechtsnews 21409)

Sollte sich die vollstreckende Justizbehörde durch die Informationen, die ihr die ausstellende Justizbehörde mitgeteilt hat, nicht veranlasst sehen, das Bestehen einer echten Gefahr auszuschließen, dass die betroffene Person in diesem Mitgliedstaat eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet, muss sie davon absehen, dem Europäischen Haftbefehl gegen diese Person Folge zu leisten.

Der EuGH hat für Recht erkannt

Art 1 Abs 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. 6. 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. 2. 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zum Zwecke der Strafverfolgung ergangen ist, zu entscheiden hat, wenn sie über Anhaltspunkte – wie diejenigen in einem begründeten Vorschlag der Europäischen Kommission nach Art 7 Abs 1 EUV – dafür verfügt, dass wegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats eine echte Gefahr der Verletzung des in Art 47 Abs 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren besteht, konkret und genau prüfen muss, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, und unter Berücksichtigung der Informationen, die der Ausstellungsmitgliedstaat gem Art 15 Abs 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in geänderter Fassung mitgeteilt hat, ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die besagte Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 25759 vom 27.07.2018