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EuGH: Europäischer Haftbefehl – Haftbedingungen im Ausstellungsstaat

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

EUV: Art 4

GRC: Art 4

Rahmenbeschluss 2002/584/JI: Art 1, Art 5, Art 6, Art 15

Selbst wenn der Ausstellungsmitgliedstaat Rechtsschutzmöglichkeiten vorsieht, die es ermöglichen, die Rechtmäßigkeit der Haftbedingungen im Hinblick auf die Grundrechte zu überprüfen, sind die vollstreckenden Justizbehörden weiterhin verpflichtet, die Situation jeder betroffenen Person individuell zu prüfen, um sich zu vergewissern, dass ihre Entscheidung über die Übergabe dieser Person diese nicht aufgrund dieser Bedingungen einer echten Gefahr aussetzt, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung iSd Art 4 GRC zu erleiden.

Die vollstreckenden Justizbehörden müssen nur die Haftbedingungen in den Haftanstalten prüfen, in denen der Betroffene nach den vorliegenden Informationen – wenn auch nur vorübergehend – konkret inhaftiert werden soll. Die Haftbedingungen in anderen Haftanstalten, in denen er gegebenenfalls später inhaftiert werden könnte, sind jedoch allein von den Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten zu prüfen.

Liegt der persönliche Raum eines Inhaftierten in einer Gemeinschaftszelle unter (dem geforderten Minimum) von 3 m2 ist die zeitliche Begrenztheit bzw der Übergangscharakter einer Inhaftierung unter solchen Bedingungen für sich genommen nicht geeignet, jegliche echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung iSv Art 4 GRC auszuschließen.

Ein Ersuchen, das dazu führt, dass die Funktionsfähigkeit des Europäischen Haftbefehls lahmgelegt wird (hier: 78 Fragen zu den Haftbedingungen in der Strafvollzugsanstalt Budapest sowie in jeder anderen Haftanstalt, in der der Betroffene gegebenenfalls inhaftiert werden könnte), ist nicht vereinbar mit der Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit (Art 4 Abs 3 Unterabs 1 EUV), die den Dialog zwischen den Justizbehörden leiten muss.

Hat die ausstellende Justizbehörde erforderlichenfalls die oder eine der zentralen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats iSv Art 7 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI um Unterstützung ersucht und die Zusicherung erteilt (oder zumindest gebilligt), dass die betroffene Person unabhängig von der Haftanstalt keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung aufgrund ihrer Haftbedingungen erfahren werde, muss sich die vollstreckende Justizbehörde in Anbetracht des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten, auf dem das System des Europäischen Haftbefehls beruht, auf diese Zusicherung zumindest dann verlassen, wenn keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art 4 GRC verstoßen.

EuGH 25. 7. 2018, C-220/18 PPU, Generalstaatsanwaltschaft (Conditions de détention en Hongrie)

Zu einem deutschen Vorabentscheidungsersuchen.

Der EuGH hat für Recht erkannt:

Art 1 Abs 3, Art 5 und Art 6 Abs 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. 6. 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. 2. 2009 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass, wenn die vollstreckende Justizbehörde über Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats verfügt, deren Richtigkeit das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung sämtlicher verfügbarer aktualisierter Angaben zu überprüfen hat,

-die vollstreckende Justizbehörde das Vorliegen einer echten Gefahr, dass eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ergangen ist, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung iSv Art 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union erfährt, nicht allein aus dem Grund ausschließen kann, dass dieser Person im Ausstellungsmitgliedstaat eine Rechtsschutzmöglichkeit zur Verfügung steht, die es ihr ermöglicht, ihre Haftbedingungen in Frage zu stellen, wenngleich diese Behörde das Bestehen einer solchen Rechtsschutzmöglichkeit bei der Entscheidung über die Übergabe der betroffenen Person berücksichtigen kann;
-die vollstreckende Justizbehörde nur die Haftbedingungen in den Haftanstalten prüfen muss, in denen die genannte Person nach den dieser Behörde vorliegenden Informationen wahrscheinlich, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, inhaftiert sein wird;
-die vollstreckende Justizbehörde dazu nur die konkreten und genauen Haftbedingungen der betroffenen Person prüfen muss, die relevant sind, um zu bestimmen, ob diese einer echten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSv Art 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt sein wird;
-die vollstreckende Justizbehörde Informationen berücksichtigen kann, die von anderen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats als der ausstellenden Justizbehörde erteilt worden sind, wie namentlich die Zusicherung, dass die betroffene Person keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung iSv Art 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt sein wird.
Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 25760 vom 27.07.2018