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Sturz vor Haustür in ungeklärtem Zusammenhang – kein Wegunfall

Bearbeiter: Manfred Lindmayr / Bearbeiter: Barbara Tuma

ASVG: § 175 Abs 2 Z 1

Kein unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehender Wegunfall liegt vor, wenn ein Versicherter zu einem Zeitpunkt, zu dem er üblicherweise sein Wohnhaus Richtung Arbeit verlässt, nach einem Sturz bewusstlos am Ende der Treppe vor der Haustür aufgefunden wird, aber nicht festgestellt werden kann, dass er zum Unfallszeitpunkt die Absicht gehabt hat, sich auf den Weg zu seiner Arbeitsstätte zu begeben, und die gegebenen Umstände auch die Möglichkeit offen lassen, dass er noch private Tätigkeiten verrichtete (hier: Hose nur bis zu den Oberschenkeln hochgezogen, Schuhe stehen noch im Haus, offene Haustür).

OGH 23. 5. 2018, 10 ObS 38/18p

Sachverhalt

Der 1989 geborene Kläger war zum Unfallszeitpunkt als Monteur unselbstständig beschäftigt. Sein Dienstbeginn war an diesem Tag um 6:00 Uhr. Der Arbeitsweg kann von seinem Wohnort in etwa 10 Minuten mit dem Pkw zurückgelegt werden. Er lebt in einem Einfamilienhaus, dessen Eingangstür über eine Steinstiege mit sechs Stufen erreichbar ist.

Am Unfallstag bemerkten vorbeifahrende Radfahrer um 6:44 Uhr, dass der Kläger bewusstlos am Fuß der Steinstiege lag. Er war zu diesem Zeitpunkt mit einem T-Shirt, Socken und Jeans bekleidet (diese nur bis zur Hälfte des Oberschenkels angezogen). Die Hauseingangstür war weit geöffnet. Die Schuhe des Klägers standen im Hausinneren etwa 1,5 m von der Tür entfernt, Richtung Wohnbereich zeigend.

Nach den Feststellungen zum Unfallhergang (aufgrund des medizinischen Sachverständigengutachtens) hatte sich der Kläger zwischen 5:30 und 5:45 Uhr in dem Bekleidungszustand, in dem er später aufgefunden wurde, beim Hauseingang befunden. Mit dem Gesicht zur Hauseingangstür war er vom Podest rücklings die sechsstufige Treppe hinuntergestürzt und dabei auf einer Stiegenkante aufgeprallt.

Der Kläger erlitt durch den Sturz einen Trümmerbruch der Schädelbasis und ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Er hat an das Geschehen keinerlei Erinnerung. Da es keine Zeugen des Geschehens gibt, konnte nicht festgestellt werden, dass der Kläger zum Unfallszeitpunkt die Absicht gehabt hätte, sich mit seinem (in der Nähe des Hauses geparkten) Pkw zur Arbeitsstätte zu begeben.

Die Vorinstanzen verneinten das Vorliegen eines Wegunfalls. Aufgrund der nicht vollständig angezogenen Kleidung, der fehlenden Schuhe und der weit offenstehenden Haustür bestehe konkret die Möglichkeit, dass sich der Kläger noch nicht auf dem Weg zur Arbeit befunden habe. Der Anscheinsbeweis dürfe nicht dazu dienen, Lücken der Beweisführung durch bloße Vermutungen auszufüllen.

Der OGH wies die außerordentliche Revision des Klägers zurück:

Entscheidung

Grenze des Versicherungsschutzes

Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung besteht ua bei Fahrten von der Wohnung zur Arbeitsstätte (§ 175 Abs 2 Z 1 ASVG). Der Versicherungsschutz setzt voraus, dass das unfallbringende Verhalten dem Weg zur Arbeitsstätte sachlich zugerechnet werden kann.

Bei der Feststellung einer sachlichen Verknüpfung zwischen einem zum Unfall führenden Verhalten und der versicherten Tätigkeit bzw dem unter Versicherungsschutz stehenden Weg geht es um die Ermittlung der Grenze, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht. Diese vom Gesetz verlangte Wertentscheidung kann – insbesondere in Grenzfällen – nicht allein nach objektiven Gesichtspunkten getroffen werden. Es ist vielmehr erforderlich, sämtliche Gesichtspunkte und Überlegungen miteinzubeziehen und diese sowohl einzeln als auch in ihrer Gesamtheit zu werten. Erst daraus folgt entweder das Vorhandensein eines versicherten Verhaltens oder das Vorliegen privatwirtschaftlicher Verrichtungen.

So genannte Vorbereitungshandlungen (wie etwa das Auftanken eines Fahrzeugs) stehen im Allgemeinen der Betriebstätigkeit zu fern, als dass sie schon dem persönlichen Lebensbereich entzogen und der unter Versicherungsschutz stehenden betrieblichen Sphäre zuzurechnen wären. Dies gilt auch für vorbereitende Verrichtungen, durch die das Zurücklegen eines Arbeitswegs und damit die Wahrnehmung der aus dem Beschäftigungsverhältnis folgenden Pflichten ermöglicht wird.

Entscheidend ist in allen solchen Fällen, ob die Gesamtumstände dafür oder dagegen sprechen, das unfallbringende Verhalten dem geschützten Bereich oder der Privatsphäre des Versicherten zuzurechnen. Damit ein Wegunfall vorliegt, ist demnach nicht allein ausreichend, dass sich der Versicherte in geografischer Hinsicht auf dem geschützten Weg befunden hat (bei der Fahrt vom Wohnort zum Arbeitsort ist diese Voraussetzung ab Verlassen der ins Freie führenden Haustüre gegeben), sondern auch, dass der Versicherte bereits die Absicht hatte, seinen Arbeitsort aufzusuchen, um dort der versicherten Tätigkeit nachzugehen.

Anscheinsbeweis ausgeschlossen

Aufgrund der gegebenen (besonderen) Umstände sind die Vorinstanzen davon ausgegangen, es sei nicht feststellbar, dass der Kläger zum Unfallszeitpunkt (bereits) die Absicht gehabt hätte, sich auf den Weg zu seiner Arbeitsstätte zu begeben. Nach Ansicht der Vorinstanzen geschah der Unfall somit bei Tätigkeiten, die in keinem sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit oder dem Weg zur Arbeitsstätte stehen, sondern noch dem privaten Bereich zuzurechnen sind.

Wenngleich im Verfahren über einen sv-rechtlichen Anspruch aus Arbeitsunfällen die Regeln des Anscheinsbeweises modifiziert anzuwenden sind, ist der Anscheinsbeweis generell dort ausgeschlossen, wo der Kausalablauf von einem individuellen Willensentschluss eines Menschen bestimmt werden kann. Dies trifft hier zu, weil es allein vom Willen des Klägers abhing, aus welchem Grund er den zum Unfall führenden Weg zurückgelegt hat, zumal nach den Feststellungen konkret auch die Möglichkeit bestand, dass er noch private Tätigkeiten verrichtete. Der bloße Verdacht eines bestimmten Ablaufs, der auch andere Verursachungsmöglichkeiten offen lässt, erlaubt die Anwendung des Anscheinsbeweises nicht. Unaufgeklärt bleibende Umstände gehen dann zu Lasten des Geschädigten. Einen Grundsatz, dass im Zweifel zu Gunsten des Versicherten zu entscheiden ist, gibt es nicht.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 25797 vom 02.08.2018