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Sexueller Missbrauch einer wehrlosen Person

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

EMRK: Art 6

StGB: § 205

StPO: § 7, § 8

1. Die verschiedenen Tatbestandsvarianten des § 205 Abs 1 StGB (sexueller Missbrauch einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person) sind rechtlich gleichwertig und bilden daher ein alternatives Mischdelikt: Die Richtigkeit der Subsumtion (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) hängt davon ab, dass (irgend-)eine Alternative verwirklicht wurde, nicht aber davon, welche dieser Alternativen. Für die Frage, ob die vom Tatbestand geforderte Objektsqualität erfüllt ist, ist demnach bedeutungslos, ob die festgestellten Tatumstände die rechtliche Annahme der Wehrlosigkeit tragen oder aber die Annahme der – in einer geistigen Behinderung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder einer anderen schweren, einem dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung begründeten – Unfähigkeit des Opfers, die Bedeutung des betreffenden Vorgangs (Beischlaf oder eine der sonstigen Handlungsvarianten des § 205 Abs 1 StGB) einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Für die rechtliche Annahme von Wehrlosigkeit kommt es darauf an, dass das Opfer – wie vorliegend konstatiert – „außer Stande“ war, „effektiven Widerstand“ zu leisten. Diese Feststellung konnte das Schöffengericht – willkürfrei – aus den Angaben der tatbetroffenen Zeugin ableiten („ich war wie erstarrt“; „ich konnte nicht schreien“; „ich konnte nicht weglaufen“). Nicht entscheidend ist hingegen, ob dieser Zustand auf „erhebliche“ Alkoholisierung und Schlaftrunkenheit zurückzuführen war oder – wie die Beschwerde beweiswürdigend mutmaßt – (ganz oder zum Teil) auf einen „Schock“.

2. Bei der Strafbemessung den Umstand als erschwerend zu werten, „dass der Angeklagte nicht davor zurückschreckte, zwecks Einschüchterung seines Opfers eine (falsche) Gegenanzeige wegen Verleumdung einzubringen“, verstößt gegen die Unschuldsvermutung, wenn das Gericht – wie hier – bei der Strafbemessung auf die Begehung einer Straftat als tatsächlichen Anknüpfungspunkt abstellt, die nicht Gegenstand des im angefochtenen Urteil gefällten oder eines sonstigen, rechtskräftigen Schuldspruchs ist.

OGH 11. 12. 2018, 11 Os 108/18v

Entscheidung

Die Berücksichtigung der „(falschen) Gegenanzeige wegen Verleumdung“ als erschwerend bei der Stafbemessung stellt hier keine „nachteilige Bewertung der Verteidigungsstrategie“ des Angeklagten dar, sondern einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung:

Dass dem Angeklagten aus seinem Verteidigungsverhalten im Strafverfahren prinzipiell (auch bei der Sanktionsfindung) kein Nachteil erwachsen darf, folgt aus dem Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung (nemo tenetur se ipsum accusare; Art 6 Abs 2 EMRK, § 7 Abs 2 erster Satz StPO) und aus dem Recht des Beschuldigten, seine Verantwortung (überhaupt) frei zu wählen (§§ 49 Z 4, 164 Abs 1, Abs 4, 245 Abs 2 StPO). Anders als sein Aussage- und sonstiges Prozessverhalten im Verfahren ist die – außerhalb desselben vorgenommene – (aktive) Erstattung einer „Verleumdungsanzeige“ gegen das Opfer indes von vornherein kein Verteidigungsverhalten, durch dessen Wertung als erschwerend eine der angesprochenen Verfahrensgarantien konterkariert werden könnte.

Die Unschuldsvermutung (§ 8 StPO; Art 6 Abs 2 EMRK) ist allerdings verletzt, wenn das Gericht bei der Strafbemessung auf die Begehung einer Straftat als tatsächlichen Anknüpfungspunkt abstellt, die nicht Gegenstand des im angefochtenen Urteil gefällten oder eines sonstigen, rechtskräftigen Schuldspruchs ist. Der betreffende Sachverhalt („falsche Gegenanzeige“ durch den Angeklagten) war hier kein Gegenstand (irgend-)eines Schuldspruchs und hätte dies im Übrigen – mangels rechtzeitigen diesbezüglichen Verfolgungsantrags eines berechtigten Anklägers – auch (von vornherein) nicht sein können. Dessen ungeachtet trifft die beanstandete Begründungspassage nach ihrem Sinngehalt eine derartige Schuldfeststellung, bringt sie doch zum Ausdruck, dass die Tatrichter das Verhalten des Angeklagten als (eben nicht nur strafschärfend, sondern auch) schon an sich strafbar qualifizierten.

Mit Blick auf den zweiten Rechtsgang fügt der OGH weiters hinzu, dass

1.die bekämpfte Strafbemessungserwägung auch deshalb rechtlich verfehlt ist, weil Nachtatverhalten – abgesehen von hier nicht relevanten Ausnahmefällen – per se nicht als erschwerend iSd § 33 StGB gewertet werden darf, und
2.eine dem Angeklagten nachteilige Bewertung seines Verteidigungsverhaltens im Strafverfahren in der – vom Schöffengericht im ersten Rechtsgang gewählten – Begründung der Nichtgewährung gänzlich bedingter Strafnachsicht mit einem Mangel an „jeglicher erkennbarer Reue“ zu erblicken gewesen wäre.
Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 26791 vom 12.02.2019