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EuGH: Verlust der Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

AEUV: Art 20

GRC: Art 7, Art 24

Bei Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit darf ein Mitgliedstaat davon ausgehen, dass die Staatsangehörigkeit Ausdruck einer echten Bindung zwischen ihm und seinen Staatsbürgern ist. Er darf daher auch das Fehlen oder den Wegfall einer solchen echten Bindung mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit (und hieraus folgend der Unionsbürgerschaft) verbinden, sofern keine Gefahr der Staatenlosigkeit droht.

Erfolgt der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes und zieht er den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich, müssen die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte jedoch in der Lage sein, bei der Beantragung eines Reisedokuments (oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit) durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen. Im Rahmen dieser Einzelfallprüfung müssen die Behörden und Gerichte feststellen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, der den des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation der betroffenen Personen und gegebenenfalls für die ihrer Familienangehörigen aus unionsrechtlicher Sicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.

EuGH 12. 3. 2019, C-221/17, Tjebbes ua

Ausgangslage

Zu einem niederländischen Vorabentscheidungsersuchen.

Das niederländische Gesetz über die niederländische Staatsangehörigkeit (RWN) sieht vor, dass ein Volljähriger die niederländische Staatsangehörigkeit verliert, wenn er zugleich eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt und während seiner Volljährigkeit während eines ununterbrochenen Zeitraums von zehn Jahren im Besitz beider Staatsangehörigkeiten seinen gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb der Niederlande und der Gebiete hat, auf die der EU-Vertrag Anwendung findet. Auch eine minderjährige Person verliert grundsätzlich die niederländische Staatsangehörigkeit, wenn ihr Vater oder ihre Mutter (ua) aus diesem Grund die niederländische Staatsangehörigkeit verliert.

Entscheidung

Hinsichtlich des Verlusts der Staatsangehörigkeit von Minderjährigen infolge des Verlusts der Staatsangehörigkeit eines seiner Elternteile hält es der EuGH für legitim, dass ein Mitgliedstaat die Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie schützen möchte.

Zur erforderlichen Prüfung der Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit und des Unionsbürgerstatus weist der EuGH darauf hin, dass nach der individuellen Situation der betroffenen Person und ihrer Familie zu beurteilen ist, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit und des Unionsbürgerstatus Folgen hat, die die normale Entwicklung ihres Familien- und Berufslebens – gemessen an dem vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Ziel – aus unionsrechtlicher Sicht unverhältnismäßig beeinträchtigen würden. Dabei darf es sich nicht um nur hypothetische oder potenzielle Folgen handeln.

Im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung müssen sich die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte Gewissheit darüber verschaffen, dass ein solcher Verlust der Staatsangehörigkeit mit den Grundrechten der Charta im Einklang steht, insb mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens (Art 7 GRC); Art 7 GRC ist dabei in Zusammenschau mit der Verpflichtung auszulegen ist, das in Art 24 Abs 2 GRC anerkannte Kindeswohl zu berücksichtigen (vgl EuGH 10. 5. 2017, Chavez-Vilchez ua, C-133/15, EU:C:2017:354, Rn 70, Rechtsnews 23553).

Hinsichtlich der Umstände, die in Bezug auf die individuelle Situation der betroffenen Person relevant sein können, ist ua die Tatsache zu erwähnen, dass die betroffene Person infolge des Verlusts der niederländischen Staatsangehörigkeit und des Unionsbürgerstatus kraft Gesetzes Beschränkungen bei der Ausübung ihres Rechts ausgesetzt wäre, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, gegebenenfalls verbunden mit besonderen Schwierigkeiten, sich weiter in die Niederlande oder einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um dort tatsächliche und regelmäßige Bindungen mit Mitgliedern ihrer Familie aufrechtzuerhalten, ihre berufliche Tätigkeit auszuüben oder die notwendigen Schritte zu unternehmen, um dort eine solche Tätigkeit auszuüben. Ebenfalls relevant wären der Umstand, dass ein Verzicht der betroffenen Person auf die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats nicht möglich gewesen wäre, sowie die ernsthafte Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung ihrer Sicherheit oder ihrer Freiheit, zu kommen und zu gehen, der die betroffene Person deshalb ausgesetzt wäre, weil es ihr unmöglich wäre, im Hoheitsgebiet des Drittstaats, in dem diese Person wohnt, konsularischen Schutz gem Art 20 Abs 2 Buchst c AEUV in Anspruch zu nehmen.

Hinsichtlich minderjähriger Personen müssen die zuständigen Behörden oder Gerichte außerdem im Rahmen ihrer individuellen Prüfung etwaigen Umständen Rechnung tragen, aus denen sich ergibt, dass der Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit, die der innerstaatliche Gesetzgeber an den Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit eines seiner Elternteile geknüpft hat, um die Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie zu wahren, wegen der Folgen eines solchen Verlusts für diesen Minderjährigen aus unionsrechtlicher Sicht nicht dem in Art 24 GRC anerkannten Kindeswohl entspricht.

Der EuGH hat für Recht erkannt:

Art 20 AEUV ist im Licht der Art 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die unter bestimmten Bedingungen den Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsieht, der bei Personen, die nicht auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, zum Verlust ihres Status als Bürger der Europäischen Union und der damit verbundenen Rechte führt, nicht entgegensteht, sofern die zuständigen nationalen Behörden einschließlich gegebenenfalls der nationalen Gerichte in der Lage sind, bei der Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen. Im Rahmen dieser Prüfung müssen diese Behörden und Gerichte feststellen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, der den des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation der betroffenen Personen und gegebenenfalls für die ihrer Familienangehörigen aus unionsrechtlicher Sicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 26976 vom 13.03.2019