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EuGH: Tägliche Ruhezeit kommt zur wöchentlichen Ruhezeit hinzu

Bearbeiter: Manfred Lindmayr

RL 2003/88/EG: Art 3, Art 5

Art 5 der RL 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) zur wöchentlichen Ruhezeit ist nach dem EuGH dahin auszulegen, dass die in Art 3 der RL vorgesehene tägliche Ruhezeit nicht Teil der wöchentlichen Ruhezeit ist, sondern zu dieser hinzukommt, auch wenn sie dieser unmittelbar vorausgeht. Dies ist auch dann der Fall, wenn die nationalen Rechtsvorschriften den Arbeitnehmer eine wöchentliche Ruhezeit gewähren, die länger ist als unionsrechtlich vorgegeben.

Daraus folgt, dass jeder Arbeitnehmer nach einer Arbeitsperiode sofort eine tägliche Ruhezeit erhalten muss, und zwar unabhängig davon, ob sich an diese Ruhezeit eine Arbeitsperiode anschließt oder nicht. Werden die tägliche und die wöchentliche Ruhezeit zusammenhängend gewährt, darf die wöchentliche Ruhezeit darüber hinaus erst dann beginnen, wenn der AN die tägliche Ruhezeit in Anspruch genommen hat.

EuGH 2. 3. 2023, C-477/21, MÁV-START

Sachverhalt und bisheriges Verfahren

Ein Lokführer, der bei der ungarischen Eisenbahngesellschaft MÁV-START beschäftigt ist, klagt vor dem Gerichtshof Miskolc gegen die Entscheidung seiner Arbeitgeber, ihm keine tägliche Ruhezeit von mindestens elf zusammenhängenden Stunden (auf die der Arbeitnehmer gemäß der RL über die Arbeitszeitgestaltung pro 24-Stunden-Zeitraum Anspruch hat) zu gewähren, wenn diese Ruhezeit einer wöchentlichen Ruhezeit oder einer Urlaubszeit vorausgeht oder dieser nachfolgt. MÁV-START macht geltend, dass ihr Arbeitnehmer durch ihre Entscheidung in keiner Weise benachteiligt werde, da der anwendbare Tarifvertrag eine wöchentliche Mindestruhezeit gewähre, die mit mindestens 42 Stunden deutlich über der von der RL vorgegebenen (24 Stunden) liege.

Mit seinem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH möchte das vorlegende Gericht ua wissen, ob nach der RL 2003/88/EG eine mit einer wöchentlichen Ruhezeit zusammenhängend gewährte tägliche Ruhezeit Teil der wöchentlichen Ruhezeit ist. Dazu hat der EuGH ausgeführt:

Entscheidung

Nach Art 3 der RL 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) ist jedem Arbeitnehmer pro 24-Stunden-Zeitraum eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden zu gewähren. Nach Art 5 der RL ist jedem Arbeitnehmer pro Siebentageszeitraum eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden zuzüglich der täglichen Ruhezeit von elf Stunden gemäß Art 3 zu gewähren.

Da die Arbeitszeit-RL das Recht auf tägliche Ruhezeit und das Recht auf wöchentliche Ruhezeit in zwei gesonderten Bestimmungen vorsieht, handelt es sich um zwei autonome Rechte, mit denen unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Die tägliche Ruhezeit soll es dem Arbeitnehmer ermöglichen, sich für eine bestimmte Anzahl von Stunden, die nicht nur zusammenhängen, sondern auch unmittelbar an eine Arbeitsperiode anschließen müssen, aus seiner Arbeitsumgebung zurückzuziehen, während es die wöchentliche Ruhezeit dem AN ermöglichen soll, sich pro Siebentageszeitraum auszuruhen. Folglich ist den Arbeitnehmer die tatsächliche Inanspruchnahme beider Rechte zu gewährleisten.

Wäre die tägliche Ruhezeit hingegen Teil der wöchentlichen Ruhezeit, würde der Anspruch auf die tägliche Ruhezeit dadurch ausgehöhlt, dass dem Arbeitnehmer die tatsächliche Inanspruchnahme dieser Ruhezeit vorenthalten würde, wenn er sein Recht auf wöchentliche Ruhezeit in Anspruch nimmt. Art 5 Abs 1 der RL 2003/88/EG beschränkt sich nicht darauf, allgemein eine Mindestdauer für das Recht auf eine wöchentliche Mindestruhezeit festzulegen, sondern stellt ausdrücklich klar, dass zu diesem Zeitraum der Zeitraum hinzukommt, der mit dem Recht auf tägliche Ruhezeit verknüpft ist. Daraus folgt, dass die tägliche Ruhezeit nicht Teil der wöchentlichen Ruhezeit ist, sondern zu dieser hinzukommt, auch wenn sie dieser unmittelbar vorausgeht.

Die in Art 5 RL 2003/88/EG vorgesehene wöchentliche kontinuierliche Mindestruhezeit beträgt 24 Stunden. Die RL ermächtigt die Mitgliedstaaten jedoch, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere Vorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder die Anwendung von für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigeren Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern zu fördern oder zu gestatten. So wurde dem betreffenden Arbeitnehmer im Ausgangsfall nach dem Tarifvertrag eine wöchentliche Ruhezeit von mindestens 42 Stunden gewährt und geht diese somit über die 35 Stunden hinaus, die sich aus der Addition der in Art 5 der RL 2003/88 vorgesehenen Mindestruhezeit von 24 Stunden und der in ihrem Art 3 vorgesehenen Mindestruhezeit von elf Stunden ergäben. Dazu hält der EuGH aber fest, dass die im Vergleich zur RL günstigeren Bestimmungen des nationalen Rechts über die Mindestdauer der wöchentlichen Ruhezeit dem Arbeitnehmer aber nicht andere Rechte nehmen können, die ihm diese RL gewährt, insbesondere nicht das Recht auf tägliche Ruhezeit. Die Ausübung solcher eigenen Befugnisse durch einen Mitgliedstaat darf nicht dazu führen, dass der den Arbeitnehmer durch die RL gewährleistete Mindestschutz und insbesondere die tatsächliche Inanspruchnahme der in Art 3 der RL vorgesehenen täglichen Mindestruhezeit beeinträchtigt werden. Um den Arbeitnehmer die tatsächliche Inanspruchnahme des in Art 31 Abs 2 der Charta und in Art 3 der RL 2003/88/EG verankerten Rechts auf tägliche Ruhezeit zu gewährleisten, muss dieses Recht daher unabhängig von der Dauer der in der anwendbaren nationalen Regelung vorgesehenen wöchentlichen Ruhezeit gewährt werden.

Im vorliegenden Fall hat die MÁV-START eine tägliche Ruhezeit nur gewährt, wenn innerhalb von 24 Stunden nach dem Ende einer bestimmten Arbeitsperiode eine neue Arbeitsperiode vorgesehen war. Wenn keine neue Arbeitsperiode vorgesehen war, zB wenn eine wöchentliche Ruhezeit oder ein Urlaub gewährt wurde, bestand nach Ansicht von MÁV-START keine Verpflichtung mehr, die tägliche Ruhezeit zu gewähren. Hierzu verweist der EuGH auf seine bisherige Rechtsprechung, wonach sich ein Arbeitnehmer für eine bestimmte Zahl von Stunden, die nicht nur zusammenhängen, sondern sich auch unmittelbar an eine Arbeitsperiode anschließen müssen, aus seiner Arbeitsumgebung zurückziehen können muss, um sich zu entspannen und von der mit der Wahrnehmung seiner Aufgaben verbundenen Ermüdung zu erholen (vgl EuGH 14. 10. 2010,C‑428/09). Daraus folgt, dass jeder Arbeitnehmer nach einer Arbeitsperiode sofort eine tägliche Ruhezeit erhalten muss, und zwar unabhängig davon, ob sich an diese Ruhezeit eine Arbeitsperiode anschließt oder nicht. Werden die tägliche und die wöchentliche Ruhezeit zusammenhängend gewährt, darf die wöchentliche Ruhezeit darüber hinaus erst dann beginnen, wenn der Arbeitnehmer die tägliche Ruhezeit in Anspruch genommen hat.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 33899 vom 07.04.2023