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Wieder einmal wird im öffentlichen Diskurs über die so genannte kalte Progression diskutiert. Dieser kurze Aufsatz möchte zum einen klären, was unter kalter Progression zu verstehen ist, und zum anderen die gegenwärtige Diskussion darüber im Hinblick auf ihre ökonomische Relevanz beurteilen.
Kalte Progression bedeutet nicht, dass ein Steuerzahler, dessen Einkommen (nominal) wächst, mehr Steuern zu bezahlen hat.
Nehmen wir an, dass auf alle Einkommen ein einheitlicher Steuersatz iHv 20 % (flat tax) erhoben werde. Diesfalls hat eine Person mit einem monatlichen (Brutto-)Einkommen iHv 2.000 €1 Steuern iHv 400 € pro Monat - 2.000 € * 20 % - zu entrichten.2 Wächst das Einkommen dieser Person auf 2.100 € (brutto), sind Steuern iHv insgesamt 420 € - 2.100 € * 20 % - abzuführen; von der Einkommenserhöhung iHv 100 € verbleiben der Person 80 € (netto).3 Der Durchschnittssteuersatz beträgt vor und nach der Einkommenserhöhung jeweils 20 % - 400 € ÷ 2.000 € bzw 420 € ÷ 2.100 €.
Ist der Steuersatz nicht einheitlich, sondern progressiv, werden auf die Einkommenserhöhung iHv 100 € mehr Steuern als die vorstehenden 20 € fällig.
Nehmen wir an, dass bis zu einem Einkommen iHv 2.000 € ein Steuersatz iHv 20 % und ab einem Einkommen iHv 2.000 € ein Steuersatz iHv 21 % erhoben werden. Diesfalls hat eine Person mit einem Einkommen iHv 2.100 € Steuern von insgesamt 421 € zu entrichten - (2.000 € * 20 %) + ([2.100 € - 2.000 €] * 21 %); von der Einkommenserhöhung iHv 100 € verbleiben der Person (nur) 79 € (netto). Während der Grenzsteuersatz von 20 % auf 21 % gestiegen ist, hat sich der Durchschnittssteuersatz kaum erhöht: Er beträgt nach der Einkommenserhöhung 20,05 % - 421 € ÷ 2.100 €. Aber auch in diesem Fall kann nicht von kalter Progression gesprochen werden; vielmehr handelt es sich hierbei um die gewollte Folge der progressiven Ausgestaltung einer Steuer.
Kalte Progression liegt vor, wenn eine Person eine steigende Grenzsteuerbelastung zu tragen hat, ohne dass ihr Einkommen real gewachsen ist. Bei einer progressiven Ausgestaltung einer Steuer und jährlich positiven Preissteigerungen stellt sich die kalte Progression immer ein, solange sich der Steuertarif am nominalen Einkommen orientiert. Mit anderen Worten: Zur Vermeidung der kalten Progression müssten die Grenzsteuersätze auf entsprechend der jährlichen Zielinflationsrate dynamisierte Einkommensstufen ausgerichtet werden. Dann würde jede Erhöhung des (Brutto-)Einkommens, die nicht über die Zielinflationsrate hinausgeht, auf einen Steuertarif, dessen Einkommensstufen mit genau dieser Zielinflationsrate gewachsen sind, treffen, sodass der Grenzsteuersatz hinsichtlich des mit der Zielinflationsrate gestiegenen Einkommens gleich bliebe. Zur Illustration:
Nehmen wir an, dass das Einkommen einer Person iHv 2.000 € mit einem einheitlichen Steuersatz iHv 20 % belastet werde (Steuerstufen des Beispiels 2, also Steuersatz iHv 20 % bis zu einem Einkommen iHv 2.000 € und Steuersatz iHv 21 % ab einem Einkommen iHv 2.000 €); im darauf folgenden Jahr verdiene diese Person bei einer gesamtwirtschaftlichen Preissteigerung iHv 2 % nominal um zwei Prozent mehr, also 2.040 € - 2.000 € * 2 %. Aufgrund der Inflation iHv 2 % wächst das Einkommen somit real nicht; die Einkommenserhöhung iHv 2 % gleicht lediglich die Inflation iHv 2 % aus. Nehmen wir des Weiteren an, dass die Einkommensstufen des Steuertarifs entsprechend der Zielinflationsrate dynamisiert seien: Damit die Person infolge der Einkommenserhöhung keinen höheren Grenzsteuersatz (iHv 21 %) zu leisten hat, greife der höhere Grenzsteuersatz (iHv 21 %) im Jahr der Einkommenserhöhung erst ab einem Einkommen iHv 2.040 €. In diesem Fall beläuft sich der im Jahr der Einkommenserhöhung abzuführende Steuerbetrag auf 408 € - 2.040 € * 20 %. Die Steuerlast ist somit von 400 € im Jahr 1 auf 408 € im Jahr 2 und damit genauso wie das Nominaleinkommen um 2 % gestiegen; kalte Progression liegt im Beispiel 3 also nicht vor.
Nehmen wir alternativ zu Beispiel 3 an, dass sich das Einkommen der Person im zweiten Jahr über die Inflationsrate hinaus erhöhe, sie also bei einer gesamtwirtschaftlichen Preissteigerung iHv 2 % nominal bspw um zehn Prozent mehr, ds 2.200 €, verdiene. Diesfalls wächst das Realeinkommen um 8 % (Wachstum des Nominaleinkommens iHv 10 % minus Inflationsrate iHv 2 %). Nehmen wir des Weiteren an, dass der Grenzsteuersatz iHv 21 % - wie in Beispiel 3 - im zweiten Jahr erst ab einem Einkommen von 2.040 € greife. Die Steuerlast der Person im Jahr 2 berechnet sich in diesem Fall folgendermaßen: (2.040 € * 20 %) + ([2.200 € - 2.040 €] * 21 %) = 441,60 €. Auf das gestiegene Einkommen werden somit überproportional mehr Steuern fällig, aber klarerweise nur auf den Zuwachs, der über die Inflationsrate hinausgeht: Statt zusätzlichen 32 € - 160 € * 20 % - hat die Person 33,60 € - 160 € * 21 % - zu entrichten. Wiederum liegt jedoch keine kalte Progression vor.
Im Ergebnis führt eine Dynamisierung der Einkommensstufen eines progressiven Steuertarifs dazu, dass Steuerzahler keine
allein aufgrund entsprechend der jährlichen Inflation steigender Nominaleinkommen höheren Grenzsteuerbelastungen zu tragen haben. Während Personen, deren Nominaleinkommenszuwachs über die Inflationsrate hinausgeht (Realeinkommensgewinn), höhere Grenzsteuersätze zu entrichten haben, sinkt für Personen, deren Nominaleinkommenszuwachs die Inflationsrate unterschreitet (Realeinkommensverlust), die Grenzsteuerbelastung.
Im Hinblick auf die österreichische Einkommensteuer könnte eine solche Dynamisierung der Einkommensstufen problemlos dadurch erreicht werden, dass die den (progressiven) Steuertarif regelnde Norm des § 33 EStG deren Anpassung an die Zielinflationsrate der EZB iHv 2 %4 vorsieht; somit würden sich die Einkommensstufen jährlich um 2 % erhöhen.5 Die konkreten Einkommensstufen wären jedes Jahr ex ante, also vor dem 1. 1. des Folgejahrs, von der Finanzverwaltung im Verordnungsweg zu verlautbaren.6
Über die in 1. besprochene Dynamisierung der Einkommensstufen der progressiv ausgestalteten österreichischen Einkommensteuer kann durchaus nachgedacht werden. Da eine solche im öffentlichen Diskurs gegenwärtig aber gerade nicht diskutiert wird, steht der Verdacht im Raum, dass die Diskussion über die kalte Progression einer Absenkung der staatlichen Einnahmen Vorschub leisten möchte. Gleichen bspw die 100 €, die in Beispiel 1 (siehe 1.) von einer Periode zur anderen mehr verdient werden, lediglich die Steigerung des gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus aus, ist der um 20 € höhere Steuerbetrag mehr als gerechtfertigt: Denn auch der Staat hat bei seinen Ausgaben (Personal- und Sachaufwand) der Inflation Rechnung zu tragen. Erzielte der Staat nominal immer gleiche Steuereinnahmen, würde er real kontinuierlich ärmer werden; dass dieses Ergebnis natürlich im Interesse all jener, die von einem schwachen Staat profitieren - in erster Linie das obere Einkommensdrittel (idR Unternehmer und Vermögende) -, ist, liegt auf der Hand.
Im Übrigen verstellt die Diskussion über die kalte Progression den Blick auf die (wirklich) relevanten Probleme im Zusammenhang mit der österreichischen Einkommensteuer bzw überhaupt mit dem österreichischen Abgabensystem. Wird dieses im internationalen Vergleich analysiert, fallen das geringe Aufkommen an Unternehmensteuern - die von Einzelunternehmern, Personen- und Kapitalgesellschaften zu bezahlenden Ertragsteuern - und die verschwindend geringe Bedeutung von Vermögensteuern ins Auge.7 In Summe ist für das österreichische Abgabensystem eine (vor der Öffentlichkeit tunlichst zu verbergende) deutlich regressive Wirkung festzustellen: "Die Haushalte im oberen Bereich zahlen gemessen an ihrem Einkommen weniger Steuern und Beiträge als jene im unteren Bereich."8 Hier hätte eine Reform anzusetzen, und zwar nicht (nur) aus Gerechtigkeitserwägungen, sondern (auch) aus einem Verständnis ökonomischer Zusammenhänge heraus: Eine Abgabenentlastung des oberen Einkommensdrittels (idR Unternehmer und Vermögende) erhöht lediglich dessen Ersparnis, nicht aber dessen Konsum. Zwar argumentiert der ökonomische Mainstream, dass steigende Ersparnis die Sachinvestitionen (als zweite Nachfragekomponente neben dem Konsum) erhöhe, doch ist diese Argumentation nicht erst empirisch, sondern bereits theoretisch einfach zu widerlegen: Da die Abgabenentlastung des oberen Einkommensdrittels in der Vergangenheit mit einer Verschlechterung der ökonomischen Position des unteren und mittleren Einkommensdrittels (idR Lohneinkommensempfänger) - Schichten mit relativ hoher Konsumquote - einherging,9 gab es keinen Bedarf für (vom Konsum abhängige) Sachinvestitionen - die Sachinvestitionsquote ist in Österreich seit den 1970er Jahren (empirisch) trendmäßig rückläufig.10
Obwohl auf die vorstehend skizzierten Probleme des österreichischen Abgabensystems und deren wirtschaftspolitische Konsequenzen bereits mannigfach aufmerksam gemacht wurde, dient auch die von der Debatte über die kalte Progression angestoßene gegenwärtige Steuerdiskussion nicht der Problemkorrektur, sondern bedauerlicherweise in erster Linie dazu, eine Reduktion der Staatseinnahmen einzufordern, um dadurch (weitere) Ausgabensenkungen (zB Pensionen) rechtfertigen zu können. Dass eine auf Umverteilung von unten nach oben abzielende Wirtschaftspolitik für die Bevölkerungsmehrheit nicht erfolgreich sein kann, wurde zwar erst jüngst wieder eindrucksvoll gezeigt,11 scheint aber in der gesellschaftlichen Breite immer noch nicht erkannt zu werden.
Das monatliche Bruttomedianeinkommen der unselbständig Beschäftigten betrug in Österreich im Jahr 2012 2.318 €.
Von Sozialversicherungsbeiträgen wird in weiterer Folge abgesehen.
Der Grenzsteuersatz beträgt in diesem Beispiel also 20 %.
Genau genommen verfolgt die EZB das Ziel, die Inflationsrate unter, aber nahe 2 % (1,9 %) zu halten.
Sollte die EZB ihre Inflationszielvorgabe ändern, müsste der Gesetzgeber tätig werden. Eine Änderung ist aber nicht zu erwarten: Eine Verringerung der Zielinflationsrate (auf bspw 1 %) kommt nicht in Frage, weil die Inflationsmessung die Preissteigerungen regelmäßig überschätzt - diese Überschätzung ist der Grund dafür, dass keine Zentralbank eine Inflationsrate iHv 0 % anstrebt -, sodass bei einer Verringerung der Zielinflationsrate Deflation droht; eine Erhöhung der Zielinflationsrate (auf bspw 3 %) ist angesichts der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse aber ebenso wenig zu erwarten, bedeutete eine Erhöhung doch, dass die Lohnstückkosten stärker als in der Vergangenheit wachsen dürften (und zur Zielerreichung auch müssten).
Dies ist bspw für die in der BAO geregelten Anspruchs-, Beschwerde-, Stundungs- und Aussetzungszinsen (§§ 205, 205a, 212 und 212a BAO) vorgesehen.
Marterbauer, Wem gehört der Wohlstand? 123 ff.
Marterbauer, Zahlen bitte! 204.
Die Verschlechterung der ökonomischen Position des unteren und mittleren Einkommensdrittels ist zum einen darauf zurückzuführen, dass der österreichische Staat zur Vermeidung eines negativen Finanzierungssaldos die Einnahmenausfälle im Gefolge der Abgabenentlastung des oberen Einkommensdrittels regelmäßig durch eine Belastung des unteren und mittleren Einkommensdrittels (etwa über eine Reduktion staatlicher Transferausgaben) kompensierte. Zum anderen ist sie der katastrophalen Entwicklung der Löhne und Gehälter hierzulande - die (bereinigte) Lohnquote fällt seit Ende der 1970er Jahre im Trend - geschuldet.
Die einzige Möglichkeit einer Volkswirtschaft, für die Zukunft vorzusorgen, besteht im Ausbau des Kapitalstocks über Sachinvestitionen. Volkswirtschaften können nicht sparen iS von Geldvermögensbildung: Zwar ist im Fall offener Volkswirtschaften eine (Geld)Gläubigerposition einzelner Länder gegenüber ihren Handelspartnern möglich (Exportüberschüsse), doch ist es klarerweise ausgeschlossen, dass alle Länder gleichzeitig (Geld)Gläubiger sind: Ein Gläubiger (Exportüberschuss) bedarf nämlich immer eines Schuldners (Exportdefizit). Die gegenwärtige Krise der EWU zeigt anschaulich, zu welchem ökonomischen Ergebnis eine auf Exportüberschüsse ausgerichtete Wirtschaftspolitik führt.
United Nations Conference on Trade and Development, Trade and Development Report, 2012.