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Beweislast für Unwirksamkeit der kurzen Kündigungsfrist im KV für Arbeiter im Hotel- und Gastgewerbe

Bearbeiter: Manfred Lindmayr

ABGB: § 1159 Abs 1 bis Abs 4

KV-Hotel- und Gastgewerbe/Arbeiter: Pkt 21 lit a

Kollektivvertragliche Regelungen weisen eine „Richtigkeitsvermutung“ auf. Spricht eine Prozesspartei einer kollektivvertraglichen Bestimmung die Normwirkung ab, dann hat sie die allenfalls erforderlichen Tatsachenbehauptungen aufzustellen und zu beweisen, aus denen sich die Unwirksamkeit der Bestimmung – hier die Überschreitung der gesetzlichen Ermächtigung („Saisonkündigungsprivileg“ gemäß § 1159 Abs 2 ABGB) – ableiten lässt. Macht daher der vom Arbeitgeber unter Berufung auf die 14-tägige Kündigungsfrist des Pkt 21 lit a Kollektivvertrag für Arbeiterinnen und Arbeiter im Hotel- und Gastgewerbe (idF bis 31. 10. 2024) gekündigte Arbeitnehmer auf Basis der (längeren) gesetzlichen Kündigungsfrist des § 1159 Abs 2 ABGB Kündigungsentschädigung geltend, trägt er im Prozess die Behauptungs- und Beweislast dafür, dass in dieser Branche Betriebe, die keine Saisonbetriebe sind, überwiegen und die kollektivvertragliche Bestimmung des Pkt 21 lit a KV daher wirkungslos ist. Gelingt ihm dieser Beweis nicht und kann daher nicht festgestellt werden, ob eine Saisonbranche vorliegt, geht dies zu Lasten des klagenden Arbeitnehmers und die Klage ist abzuweisen.

OGH 19. 9. 2024, 9 ObA 57/24h

Sachverhalt und bisheriges Verfahren

Der Kläger war bei der beklagten Gesellschaft seit 20. 5. 2021 als Kellner vollzeitbeschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis gelangt der Kollektivvertrag für Arbeiterinnen und Arbeiter im Hotel- und Gastgewerbe zur Anwendung. Das Arbeitsverhältnis wurde vom Arbeitgeber am 5. 10. 2021 zum 21. 10. 2021 aufgekündigt. Mit dem Argument, die Kündigung sei gemäß § 1159 Abs 2 ABGB fristwidrig erfolgt, begehrt der Kläger ua Kündigungsentschädigung bis 31. 12. 2021. Die Gesellschaft betreibe keinen „Saisonbetrieb“, weshalb die gesetzliche Kündigungsfrist des § 1159 Abs 2 ABGB und nicht die kürzere kollektivvertragliche Kündigungsfrist (14 Tage) zur Anwendung gelange.

Die Vorinstanzen gingen davon aus, dass zum Zeitpunkt der Kündigung des Klägers die Kollektivvertragsparteien keine Einigung darüber erzielt haben, dass es sich bei den Betrieben im Bereich der Hotellerie und Gastronomie um Saisonbetriebe iSd § 53 Abs 6 ArbVG handle. Daher sei keine kollektivvertragliche Abweichung von § 1159 ABGB vorgelegen, weshalb die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis des Klägers nach § 1159 Abs 2 ABGB nur zum 31. 12. 2021 auflösen konnte.

Im Rahmen des Revisionsverfahrens kamen beim OGH Zweifel an der Verfassungskonformität der Ausnahmeregelung für Branchen mit überwiegend Saisonbetrieben auf, weshalb er einen entsprechenden Gesetzesprüfungsantrag an den VfGH stellte (OGH 14. 2. 2024, 9 ObA 38/23p, ARD 6891/7/2024). Mit Erkenntnis vom 25. 6. 2024, G 29/2024, ARD 6909/5/2024, wies der VfGH diesen Antrag ab. Im nun fortgesetzten Verfahren gab der OGH der Revision des beklagten Arbeitgebers statt, hob die Urteile der Vorinstanzen auf verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurück:

Strittige Rechtsfrage der Beweislast

Für Kündigungen von Arbeiterdienstverhältnissen gelten seit 1. 10. 2021 gemäß § 1159 ABGB idF BGBl I 2017/153 grundsätzlich die auch für Angestellte geltenden längeren Kündigungsfristen. Durch Kollektivvertrag können aber für Branchen, in denen Saisonbetriebe iSd § 53 Abs 6 ArbVG überwiegen, abweichende Regelungen, idR kürzere Kündigungsfristen, festgelegt werden. Der KV-Hotel- und Gastgewerbe/Arb sieht (in der ab 1. 5. 2019 [bis 31. 10. 2024] geltenden Fassung) in § 21 lit a vor, dass ein Dienstverhältnis (nach Ablauf der ersten 14 Tage) mit 14-tägiger Kündigungsfrist gelöst werden kann.

Im vorliegenden Verfahren ist die Frage strittig, ob der klagende Arbeitnehmer, der sich auf die gesetzliche Kündigungsfrist des § 1159 Abs 2 Satz 2 ABGB beruft, die Unwirksamkeit der eine kürzere Kündigungsfrist normierenden Bestimmung des Pkt 21 lit a Satz 2 KV zu behaupten und die insoweit relevanten Tatsachen zu beweisen hat, oder der sich auf die kürzere kollektivvertragliche Kündigungsfrist berufende Arbeitgeber die Behauptungs- und Beweislast dafür trägt, dass die Bestimmung des Pkt 21 lit a Satz 2 KV (iVm § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB) und nicht die gesetzliche Bestimmung des § 1159 Abs 2 Satz 2 ABGB im konkreten Fall wegen des Vorliegens einer Saisonbranche anwendbar ist.

Beweislast trägt klagender Arbeitnehmer

Die hier zu beurteilende Rechtsfrage hat der OGH bislang noch nicht beantwortet. Im Schrifttum finden sich dazu zahlreiche, unterschiedliche Stellungnahmen: Für eine Behauptungspflicht (und Beweislastverteilung zu Lasten) des Arbeitgebers sprechen sich ua Nunner-Krautgasser (in DRdA-infas 2023, 72), Grillberger (in wbl 2022/114, 403), Radlingmayr (in ecolex 2023/320), Tinhofer (in Der Standard 2022/19/02) und Reissner (in JAS 2023, 145 [161 f]) aus. Hingegen treten für die Rechtsauffassung, dass der gekündigte Arbeitnehmer, der unter Berufung auf das Gesetz eine Kündigungsentschädigung fordert, jene Tatsachen zu beweisen hat, aus denen sich die Nichtigkeit einer kollektivvertraglichen Regelung über Kündigungsfristen- und -termine ergibt, Noga (in ASoK 2022, 281 [285 ff]), Rauch (ASoK-Spezial Arbeitsrecht 2023, 2.16.1), Kietaibl (in ASoK 2023, 234 [237 ff]) und Dehn (Unbefristetes Unbestimmtes? In FS Neumayr II, 2467 [2474 ff]) ein.

Dehn argumentiert, dass die Erklärung eines KV, die von ihm geregelte Branche sei eine Saisonbranche iSd § 1159 ABGB, nur eine Orientierung sein, aber keine abschließende Richtigkeitsgewähr bieten könne. Die KV-Parteien könnten im Streben um die Schaffung von Rechtsklarheit zwar auf das Überwiegen von Saisonbetrieben in der Branche hinweisen, diesen Umstand aber nicht normativ festlegen, weil ihre Regelungsbefugnis ja erst einsetze, wenn der Tatbestand tatsächlich erfüllt sei. Grundsätzlich sei eine kollektivvertragliche Regelung nicht im Hinblick auf ihre Rechtswirksamkeit, sondern auf ihre allfällige Rechtsunwirksamkeit hin zu prüfen. Im Individualprozess bedürfte es demnach nicht im Interesse der Prozesspartei, die sich auf die kollektivvertragliche Regelung berufe, der Feststellung von Tatsachen für die Annahme ihrer Wirksamkeit, sondern vielmehr im Interesse der Gegenpartei, die sich auf die gesetzliche Frist berufe, der Feststellung von Tatsachen für die Nichtigkeit der kollektivvertraglichen Frist. Daher wäre die Prozesslast im Falle einer Negativfeststellung über die zu behauptenden Tatsachen von demjenigen zu tragen, der die kollektivvertragliche Regelung nicht angewendet wissen wolle.

Den überzeugenden Rechtsausführungen von Dehn, die der 9. Senat des OGH teilt, sind folgende Grundsätze voranzustellen:

Gemäß § 11 Abs 1 ArbVG sind die Bestimmungen des Kollektivvertrags, soweit sie nicht die Rechtsbeziehungen zwischen den KV-Parteien regeln, innerhalb seines fachlichen, räumlichen und persönlichen Geltungsbereichs unmittelbar rechtsverbindlich. In diesem Geltungsbereich wirken die Bestimmungen des KV normativ, sie schaffen objektives Recht und sind als Gesetz im materiellen Sinn zu qualifizieren. Nach der Rechtsprechung ist eine mit zwingendem Recht in Widerspruch stehende KV-Bestimmung nicht rechtsgültig und daher wirkungslos bzw nichtig. Auch dann, wenn die KV-Parteien ihre vom Gesetz (§ 2 Abs 2 ArbVG) eingeräumte Ermächtigung überschritten haben, kommt der kollektivvertraglichen Regelung nicht die Normwirkung des § 11 Abs 1 ArbVG zu.

§ 43 Abs 1 ASGG, wonach der Inhalt kollektivvertraglicher Normen von Amts wegen zu ermitteln ist, enthält keine Beweislastregel. Kollektivvertragliche Regelungen weisen eine „Richtigkeitsvermutung“ bzw „Richtigkeitsgewähr“ auf. Diese stellt in der Sache eine Vermutung für die Angemessenheit, Sachlichkeit und Rechtsrichtigkeit des Kollektivvertrags dar. Dennoch steht es den Parteien frei, im gerichtlichen Verfahren die Unwirksamkeit kollektivvertraglicher Normen, etwa wegen Überschreitung der gesetzlichen Ermächtigung, geltend zu machen.

Nach den allgemeinen Beweislastregeln hat jede Partei die Voraussetzungen der ihr günstigen Norm zu behaupten und zu beweisen, und es trifft denjenigen die Beweislast, der behauptet, es liege eine Ausnahme von einer allgemeinen Regel vor. Im vorliegenden Fall stellt sich nicht die Frage, ob ein konkreter Sachverhalt die Voraussetzungen einer bestimmten Norm erfüllt, sondern ob eine bestimmte Norm selbst überhaupt rechtswirksam ist. Spricht eine Prozesspartei einer kollektivvertraglichen Bestimmung die Normwirkung ab, dann hat sie die allenfalls erforderlichen Tatsachenbehauptungen aufzustellen, aus denen sich die Unwirksamkeit der Bestimmung – hier die Überschreitung der gesetzlichen Ermächtigung – ableiten lässt.

Die hier zu beurteilende Rechtsfrage kann aber nicht abschließend beantwortet werden, weil dazu Feststellungen fehlen. Die Parteien haben hier kein (ausreichendes) Vorbringen zur Beurteilung der Frage erstattet, ob Pkt 21 lit a KV mit § 1159 Abs 2 ABGB in Widerspruch steht. Insbesondere hat der behauptungs- und beweispflichtige Kläger keine Behauptungen in Ansehung des Überwiegens von Betrieben in der Branche des Hotel- und Gastgewerbes, die keine Saisonbetriebe sind, aufgestellt und dafür Beweisanbote erstattet. Dementsprechend wurden hierzu auch keine Feststellungen getroffen. Das Gericht darf die Parteien in seiner Entscheidung nicht mit einer Rechtsauffassung überraschen, die sie nicht beachtet haben und auf die sie das Gericht nicht aufmerksam gemacht hat; dieses Verbot von Überraschungsentscheidungen gilt auch für den OGH. Das Erstgericht wird daher im fortzusetzenden Verfahren mit den Parteien die dargestellten Grundsätze zur Behauptungs- und Beweispflicht zu erörtern und ihnen Gelegenheit zur Erstattung weiteren Vorbringens zu geben haben.

Zusammenfassung des OGH

Die diese Entscheidung tragenden Erwägungen können wie folgt zusammengefasst werden:

Macht der vom Arbeitgeber unter Berufung auf die 14-tägige Kündigungsfrist des Pkt 21 lit a KV gekündigte Arbeitnehmer auf Basis der gesetzlichen Kündigungsfrist des § 1159 Abs 2 ABGB Kündigungsentschädigung geltend, so muss nicht der Arbeitgeber das Vorliegen einer Saisonbranche und damit die Rechtswirksamkeit der kollektivvertraglichen Regelung behaupten und beweisen. Vielmehr trägt der klagende Arbeitnehmer im Prozess die Behauptungs- und Beweislast dafür, dass in einer Branche Betriebe, die keine Saisonbetriebe sind, überwiegen und die kollektivvertragliche Bestimmung des Pkt 21 lit a KV daher wirkungslos ist, weshalb nicht die kürzere kollektivvertragliche, sondern die längere gesetzliche Kündigungsfrist zum Tragen kommt.

Der OGH verkennt nicht die – gerade auch im konkreten Fall – mit dieser Beweisführung verbundenen Schwierigkeiten. Es ist jedoch nicht Aufgabe der – ordentlichen – Gerichte, unbefriedigende Gesetzesbestimmungen zu ändern, sondern der Gesetzgebung.

Kann nicht festgestellt werden, ob eine Saisonbranche vorliegt (non liquet), dann trifft den diesbezüglich behauptungs- und beweispflichtigen Arbeitnehmer die Beweislast. In diesem Fall sind die gesetzlichen Kündigungsfristen und -termine des § 1159 Abs 2 ABGB nicht als Entscheidungsgrundlage heranzuziehen.

Pkt 15 des Kollektivvertrags für Angestellte im Hotel- und Gastgewerbe, wonach das unbefristete Dienstverhältnis nach den Bestimmungen des AngG mit der Maßgabe gekündigt werden kann, dass es jeweils zum 15. oder Letzten des Kalendermonats aufgekündigt werden kann (§ 20 Abs 3 AngG), ist auf Arbeitnehmer, die dem Kollektivvertrag für Arbeiterinnen und Arbeiter im Hotel- und Gastgewerbe unterliegen, nicht analog anwendbar.

Hinweis: Für den neuen (gemeinsamen) KV für Arbeitnehmer:innen im Hotel- und Gastgewerbe ab 1. 11. 2024 haben die KV-Partner nunmehr klargestellt, dass Arbeitsverhältnisse „unter Einhaltung der jeweils geltenden Kündigungsfristen zu jedem Fünfzehnten oder Letzten eines Kalendersmonats“ gekündigt werden können. Dies bedeutet, dass für alle ab 1. 11. 2024 zugegangene Kündigungen die gesetzlichen Kündigungsfristen des § 1159 ABGB einzuhalten sind. Vor diesem Zeitpunkt unter Einhaltung der kollektivvertraglichen Frist von 14 Tagen erfolgten Kündigungen werden hingegen wohl „halten“, weil dem dafür beweispflichtigen Arbeitnehmer der Beweis wohl nicht gelingen wird, dass das Hotel- und Gastgewerbe österreichweit keine Saisonbranche ist.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 36002 vom 23.10.2024