News

EGMR: Entscheidungen betr Österreich im 2. Quartal 2015

Bearbeiter: Barbara Tuma

Im 2. Quartal 2015 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über folgende Beschwerden entschieden, die gegen die Republik Österreich gerichtet waren:

Importance Level 2:

-EGMR 11. 6. 2015, 19844/08, Becker v. Austria (Entziehung des Führerscheins und Verwaltungsstrafe nach erfolglosem/verweigertem Alkomat-Test)
Verletzung von Art 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren):
Bei einer Verkehrskontrolle zeigte der Bf Alkoholisierungssymptome und wurde daher zu einer Atemluftalkoholuntersuchung mittels Alkomat aufgefordert. Dabei lieferten 8 von 9 Versuchen keine verwertbaren Ergebnisse. Nach dem Vorwurf, der Alkomat sei defekt, führte einer der Beamten unter Benutzung desselben Mundstücks zwei erfolgreiche Tests durch; auch eine technische Überprüfung des Geräts hatte erst ca ein Monat vor dem Vorfall dessen volle Funktionsfähigkeit ergeben. Die Beamten werteten das Verhalten des Bf letztlich als Verweigerung des Tests und nahmen ihm den Führerschein vorläufig ab.
In der Folge wurde dem Bf die Fahrerlaubnis mit Bescheid für 4 Monate befristet entzogen. In seiner Berufung beantragte der Bf ua ein Sachverständigengutachten zur Funktionsfähigkeit des Alkomaten. Der Landeshauptmann bestätigte aber den Bescheid der BH und der VwGH wies die Beschwerde des Bf als unbegründet ab (VwGH 27. 9. 2007, 2006/11/0027). Von der beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung hatte der VwGH gem § 39 Abs 2 VwGHG abgesehen, weil eine mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten ließ.
Zur Beschwerde betreffend dieses Verfahren erkannte der EGMR, dass eine Verletzung von Art 6 EMRK vorliegt, weil der VwGH der erste Gerichtshof iSd EMRK war, der mit der Sache befasst war und eine mündliche Verhandlung durchzuführen gewesen wäre (zur stRsp des EGMR betr Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung vor dem VwGH vgl zB LN Rechtsnews 9408 vom 1. 7. 2010 und vor dem VfGH vgl LN Rechtsnews 10384 vom 4. 1. 2011). Weder der VwGH damals noch die Bundesregierung im Verfahren vor dem EGMR konnte wichtige Gründe vorbringen, die den Entfall einer Verhandlung gerechtfertigt hätten. Der EGMR ließ es allerdings beim Ausspruch der Rechtsverletzung bewenden und sprach dem Bf keine Entschädigung zu.
In einem zweiten Verfahren wurde über den Bf eine Verwaltungsstrafe verhängt, gegen die der Bf am 30. 4. 2001 Berufung erhob. Da darüber innerhalb von 15 Monaten nicht entschieden wurde, stellte der UFS am 30. 9. 2005 fest, dass die Strafe damit ipso iure erloschen war.
Die Beschwerdepunkte betreffend dieses Verfahren wurden vom EGMR nicht behandelt, weil der innerstaatliche Instanzenzug nicht ausgeschöpft worden war.
Anmerkung:
Zur fehlenden Erforderlichkeit eines Sachverständigengutachtens ohne konkreten begründeten Zweifel an der Funktionsfähigkeit des verwendeten Alkomaten vgl zuletzt VwGH 17. 4. 2015, 2013/02/0035, LN Rechtsnews 19569 vom 28. 5. 2015.
Zur Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung vgl nun - nach Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz - VwGH 21. 4. 2015, Ra 2015/09/0009, LN Rechtsnews 19734 vom 24. 6. 2015, wonach diese Verpflichtung nunmehr die Verwaltungsgerichte zu übernehmen haben (siehe dazu auch VwGH 10. 12. 2014, Ra 2014/09/0013, LN Rechtsnews 19732 vom 24. 6. 2015, betr mündliche Verhandlung im 2. Rechtsgang).

Importance Level 3:

-EGMR 16. 4. 2015, 14134/07, Armellini ua v. Austria (Zeitungsartikel zweier Journalisten über die Ermittlungen gegen österr. Fußball-Spieler iZm einem deutschen Wettskandal - Verurteilung der Journalisten zu einer Geldstrafe wegen Übler Nachrede gem § 111 StGB und des Zeitungsunternehmens zu einer Entschädigungszahlung gem § 6 MedienG)
Keine Verletzung von Art 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung):
Nach Ansicht des EGMR wurden im Strafverfahren alle relevanten Fakten ausreichend berücksichtigt (Länge und Textierung des Artikels mit direkten Angriffen auf die Fußballspieler ebenso wie ua die Aufmachung des Artikels) und das Gericht hat auch ausreichend begründet, warum es den Wahrheitsbeweis als nicht erbracht ansah. Die Geldstrafen iHv € 3.680 bzw € 5.040 wurden für einen Zeitraum von 3 Jahren bedingt nachgesehen und die medienrechtliche Entschädigung auf € 12.000 reduziert, sodass die Strafen angemessen erscheinen. Insgesamt konnte der EGMR somit keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung erkennen.
-EGMR 2. 4. 2015, 27945/10, Sarközi and Mahran v. Austria (Verhängung eines Aufenthaltsverbots nach mehrmaliger strafgerichtlicher Verurteilung trotz eines minderjährigen Kindes mit einem österreichischen Staatsbürger)
Keine Verletzung von Art 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens):
Bei seiner Entscheidung berücksichtigt der EGMR va die Schwere der sieben strafgerichtlichen Verurteilungen und die Tatsache, dass der Bf bei ihrer letzten Straftat bewusst gewesen sein muss, dass eine Ausweisung droht. Das Aufenthaltsverbot ist mit September 2016 befristet und die Bf wurde erst im Dezember 2012 in die Slowakei abgeschoben, wo sie aufgewachsen ist; außerdem erlaubt die räumliche Nähe zwischen dem Wohnort ihrer Familie (Wien) und Bratislava, wohin sie abgeschoben wurde, häufige Besuche der Familie. Bereits der Antritt ihrer ersten Haftstrafe in der Dauer von mehr als drei Jahren hat zu einer langen Trennung von ihrem Kind geführt. Insgesamt haben die Behörden daher nach Ansicht des EGMR ihren Beurteilungsspielraum nicht überschritten.

Die Volltexte aller Entscheidungen sind in Englisch auf der Homepage des EGMR unter www.echr.coe.int/ECHR/ abrufbar.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 19790 vom 02.07.2015