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EuGH: Automatische Beschränkung der Rabatte für Online-Reisebuchungen

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

Art: 101 AEUV

Im vorliegenden litauischen Fall ermöglichte eine Softwarefür ein gemeinsames Online-Reisebuchungssystem Reisebüros, in einheitlicher Buchungsform Reisen auf ihrer Website zu vertreiben. Der Administrator dieses Systems sendete den teilnehmenden Reisebüros eine individuelle elektronische Mitteilung, in der sie darauf aufmerksam gemacht wurden, dass für Preisnachlässe fortan eine Obergrenze gelte (und zwar maximal ein Preisnachlass von 3 %) und im Anschluss an diese Mitteilung im System die erforderlichen technische Änderungen vorgenommen würden. Nach den Anpassungen waren höhere Preisnachlässe zwar möglich, unterlagen aber zusätzlichen technischen Formalitäten.

In einem solchen Fall kann vermutet werden, dass diese Wirtschaftsteilnehmer ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von der Mitteilung des Systemadministrators Kenntnis erlangt haben, sich an einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise iSd Art 101 Abs 1 AEUV beteiligt haben, sofern sie sich nicht öffentlich von dieser Verhaltensweise distanziert haben, sie nicht bei den Behörden angezeigt haben oder keine anderen Beweise zur Widerlegung dieser Vermutung vorgelegt haben (zB systematische Gewährung höherer Preisnachlässe).

EuGH 21. 1. 2016, C-74/14, Eturas ua

Zu einem litauischen Vorabentscheidungsersuchen.

Entscheidung

Unschuldsvermutung

Der EuGH beschäftigt sich in seinen Entscheidungsgründen ua mit der Unschuldsvermutung. Danach darf das vorlegende Gericht aus dem bloßen Versenden der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Mitteilung nicht ableiten, dass die betreffenden Reisebüros zwangsläufig deren Inhalt kennen mussten.

Allerdings hindere die Unschuldsvermutung das vorlegende Gericht nicht, davon auszugehen, dass das Versenden der Mitteilung im Hinblick auf andere objektive und übereinstimmende Indizien die Vermutung begründen kann, dass die Reisebüros ab dem Zeitpunkt der Versendung der Mitteilung deren Inhalt kannten, sofern diesen Reisebüros die Möglichkeit bleibt, diese Vermutung zu widerlegen.

An die Widerlegung dieser Vermutung darf das vorlegende Gericht nach Ansicht des EuGH keine übertriebenen oder unrealistischen Anforderungen stellen. Die Reisebüros müssen die Möglichkeit haben, die Vermutung zB durch den Nachweis zu widerlegen, dass sie diese Mitteilung nicht erhalten oder die betreffende Rubrik nicht oder erst eingesehen haben, als seit dem Versenden der Mitteilung bereits eine gewisse Zeit verstrichen war.

Stillschweigende Beteiligung - Distanzierung

Nach Maßgabe der Beweiswürdigung durch das vorlegende Gericht kann von einem Reisebüro vermutet werden, dass es sich ab dem Zeitpunkt, zu dem es vom Inhalt dieser Mitteilung Kenntnis erlangte, an dieser Abstimmung der Verhaltensweisen beteiligt hat, so der EuGH weiter.

Könne hingegen nicht festgestellt werden, ob ein Reisebüro von dieser Mitteilung Kenntnis erlangt hat, dürfe seine Beteiligung an einer Abstimmung der Verhaltensweisen nicht allein aus der Existenz der technischen Beschränkung abgeleitet werden, ohne dass auf der Grundlage anderer objektiver und übereinstimmender Indizien festgestellt wird, dass es stillschweigend ein wettbewerbswidriges Vorgehen gebilligt hat.

Nach Auffassung des EuGH kann ein Reisebüro die Vermutung seiner Beteiligung widerlegen, indem es nachweist, dass es sich öffentlich von dieser Verhaltensweise distanziert oder sie bei den Behörden angezeigt hat. Der EuGH verwies zudem auf seine Rsp, wonach in einem Fall wie hier, in dem keine Rede von einem kollusiven Treffen ist, darüber hinaus auch andere Beweise vorgelegt werden können (vgl in diesem Sinne Urteil Total Marketing Services/Kommission, C-634/13 P, EU:C:2015:614, Rn 23 und 24).

Unter den besonderen Umständen des Ausgangsverfahrens könne nicht verlangt werden, dass die Erklärung eines Reisebüros, sich zu distanzieren, hinsichtlich aller Wettbewerber erfolgt, die Adressaten der hier in Rede stehenden Mitteilung waren; ein solches Reisebüro sei nämlich faktisch nicht in der Lage, diese Adressaten zu kennen. In diesem Fall könne das vorlegende Gericht akzeptieren, dass eine an den Administrator des rechnergestützten Systems gerichtete klare und ausdrückliche Beanstandung diese Vermutung widerlegen kann.

Weiters könnte unter den vorliegenden Umständen die Vermutung eines Kausalzusammenhangs zwischen der Abstimmung der Verhaltensweisen und dem Marktverhalten der daran beteiligten Unternehmen durch den Nachweis der systematischen Gewährung eines über die fragliche Obergrenze hinausgehenden Preisnachlasses widerlegt werden könnte.

Der EuGH hat für Recht erkannt:

Art 101 Abs 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass, wenn der Administrator eines Informationssystems, das Reisebüros ermöglichen soll, in einheitlicher Buchungsform Reisen auf ihrer Website zu vertreiben, diesen Wirtschaftsteilnehmern über einen individuellen elektronischen Mitteilungsdienst eine Mitteilung sendet, in der sie darauf aufmerksam gemacht werden, dass für die Preisnachlässe auf die mittels dieses Systems vertriebenen Produkte fortan eine Obergrenze gelte und im Anschluss an die Verbreitung dieser Mitteilung an dem fraglichen System technische Änderungen vorgenommen würden, die für die Durchführung dieser Maßnahme erforderlich seien, vermutet werden kann, dass diese Wirtschaftsteilnehmer ab dem Zeitpunkt, zu dem sie von der vom Systemadministrator versandten Mitteilung Kenntnis erlangten, sich an einer aufeinander abgestimmten Verhaltensweise im Sinne dieser Bestimmung beteiligt haben, wenn sie es unterlassen haben, sich öffentlich von dieser Verhaltensweise zu distanzieren, sie nicht bei den Behörden angezeigt haben oder keine anderen Beweise zur Widerlegung dieser Vermutung wie etwa den Nachweis einer systematischen Gewährung eines über die fragliche Obergrenze hinausgehenden Preisnachlasses vorgelegt haben.

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, auf der Grundlage der nationalen Rechtsvorschriften über die Beweiswürdigung und das Beweismaß zu prüfen, ob im Hinblick auf sämtliche ihm unterbreiteten Umstände das Versenden einer Mitteilung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ein hinreichender Beweis dafür sein kann, dass ihre Adressaten deren Inhalt kannten. Die Unschuldsvermutung versagt dem vorlegenden Gericht, davon auszugehen, dass das bloße Versenden einer Mitteilung ein hinreichender Beweis dafür sein könne, dass deren Adressaten zwangsläufig deren Inhalt kennen mussten.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 20974 vom 26.01.2016