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EuGH-GA: Zusammenhängende Familienbetriebe - ein Steuerpflichtiger?

Bearbeiter: Barbara Tuma

RL 2006/112/EG: Art 9, Art 11, Art 296

UStG: § 2 Abs 1, § 22

Nach vorheriger Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer kann grds jeder Mitgliedstaat gem Art 11 der RL 2006/112/EG in seiner innerstaatlichen Rechtsordnung eine ausdrücklichen Rechtsgrundlage dafür schaffen, um in seinem Gebiet ansässige Personen zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln, wenn sie zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind (hier: mehrere landwirtschaftliche Familienbetriebe in den Rechtsformen GesbR und GmbH). Haben Steuerpflichtige die Rechte aus ihrer Eigenschaft als eigenständige Steuerpflichtige missbraucht, können die Steuerbehörden die Eigenschaft als eigenständige Steuerpflichtige auch rückwirkend aberkennen.

Werden mehrere bisher eigenständige Steuerpflichtige zusammen als ein Steuerpflichtiger behandelt, kann auch die Pauschalregelung für Landwirte versagt werden, wenn die erforderliche Betriebsgröße nicht mehr erfüllt ist. Auch diese Versagung kann rückwirkend erfolgen, wenn die Anwendung der Pauschalregelung mit einem Rechtmissbrauch einherging.

Schlussanträge des Generalanwalts vom 30. 6. 2016 zu C-340/15, Nigl ua

Sachverhalt

Zum Vorabentscheidungsersuchen BFG 29. 6. 2015, RE/7100001/2015, ÖStZB 2015/254

Die Familie Nigl ist seit Langem im Weinanbau und in der Weinerzeugung tätig. Im Zuge der Erweiterung der Produktion und der Vergrößerung der Anbauflächen wurden in die Tätigkeit immer mehr neue Familienmitglieder einbezogen. Zurzeit bilden sie drei Gesellschaften bürgerlichen Rechts, von denen jede auf ihren Flächen Wein anbaut. Auch der Wein wird aus der Ernte aus den Flächen der einzelnen Gesellschaften getrennt erzeugt und entsprechend gekennzeichnet, allerdings unter dem gemeinsamen Namen „Nigl“ verkauft.

Zudem gründeten die Familienmitglieder im Jahr 2001 die Weingut Nigl GmbH. Diese Gesellschaft betreibt va den Weinverkauf im Namen und für Rechnung der drei GesbR. Sie stellt auch im eigenen Namen Wein aus den Trauben her, die sie von den drei GesbR bezieht.

Die für den Anbau und die Herstellung erforderlichen Gerätschaften gehören grundsätzlich den einzelnen GesbR, mit Ausnahme der Immobilien und einiger Anlagen, wie zB der Füllanlage, die im Miteigentum stehen.

Alle vier Gesellschaften (dh die drei GesbR und die GmbH) waren seit ihrem Entstehen als eigenständige Mehrwertsteuerpflichtige registriert, wobei die GesbR unter die gemeinsame Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger fielen. Dieser Status wurde durch Prüfungen der Steuerbehörden bestätigt.

Im Jahr 2012 allerdings kamen diese Behörden im Rahmen einer weiteren Prüfung zu dem Schluss, dass alle drei GesbR ab dem Jahr 2005 als ein Unternehmen und folglich als ein Mehrwertsteuerpflichtiger anzusehen seien (weitgehende wirtschaftliche und organisatorische Verflechtung, Nutzung gemeinsamer Gebäude und Anlagen, Vinifizierung in Wirklichkeit durch eine Person, gemeinsamer Handelsname „Weingut Nigl“). Nur die GmbH behielt ihren Status als eigenständiger Wirtschaftsteilnehmer. Die Behandlung der drei GesbR als ein Unternehmen führt nach österreichischem Recht auch dazu, dass sie von der Besteuerung nach der gemeinsamen Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger ausgenommen sind.

Gegen die entsprechenden Änderungsbescheide für die Jahre 2005 bis 2012 gehen die Bf im Ausgangsverfahren vor und machen dabei insb geltend: Eine einheitliche GesbR könne entgegen dem ausdrücklichen Willen der vermeintlichen Gesellschafter nicht konkludent entstehen. Die einzelnen GesbR seien voneinander unabhängig und zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden; die gemeinsame Nutzung von Gebäuden und Anlagen werde häufig praktiziert, insb in der Landwirtschaft; der Verkauf des Weins unter einem gemeinsamen Handelsnamen sei ebenfalls nicht von entscheidender Bedeutung, insb weil der Wein zusätzlich auch die Bezeichnung der jeweiligen GesbR trage.

Mit seinen Vorlagefragen möchte das BFG 29. 6. 2015, RE/7100001/2015, ÖStZB 2015/254, zusammengefasst im Wesentlichen wissen,

1.ob die drei Personenvereinigungen, die sich aus verschiedenen Angehörigen einer Familie zusammensetzen, nach außen eigenständig auftreten, grds über jeweils eigene Betriebsmittel verfügen, ihre Produkte jedoch zum Großteil über eine Kapitalgesellschaft unter einer gemeinsamen Marke vertreiben, drei selbständige Unternehmer (Steuerpflichtige) sind;
2.wer im vorliegenden Fall nun als eigenständiger Unternehmer anzusehen ist, falls die drei GesbR nicht als drei eigenständige Unternehmer (Steuerpflichtige) anzusehen sind;
3.ob die Eigenschaft als Unternehmer (Steuerpflichtiger) auch rückwirkend aberkannt werden kann, wenn die Personenvereinigungen zunächst vom Finanzamt als eigenständige Unternehmer (Steuerpflichtige) anerkannt wurden;
4.ob die GesbR als Pauschallandwirte anzusehen sind, wenn sie zwar als drei eigenständige Unternehmer (Steuerpflichtige) anzusehen sind und jeweils für sich unter die Pauschalregelung fallen, jedoch die Kapitalgesellschaft, eine aus den Mitgliedern der drei Personenvereinigungen gebildete eigene Personenvereinigung oder eine aus der Kapitalgesellschaft und den Mitgliedern der drei Personenvereinigungen gebildete eigene Personenvereinigung aufgrund der Betriebsgröße oder der Rechtsform nach nationalem Recht von der Pauschalregelung ausgenommen ist;
5.ob ein Ausschluss von der Pauschalregelung für landwirtschaftliche Erzeuger auch rückwirkend möglich ist.

Entscheidung

Der Generalanwalt schlägt dem EuGH folgende Antworten auf die Vorlagefragen des BFG vor:

1.Art 9 Abs 1 Unterabs 1 der RL 2006/112/EG des Rates vom 28. 11. 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass er keine Grundlage dafür bildet, einer Person, die organisatorisch, wirtschaftlich oder finanziell mit einer anderen Person verbunden ist, die Eigenschaft als Steuerpflichtiger abzusprechen, wenn diese Verbindung nicht auf einem Rechtsverhältnis der in Art 10 dieser RL genannten Art beruht. Art 11 dieser RL ist dahin auszulegen, dass seine Anwendung eine ausdrückliche Rechtsgrundlage in der innerstaatlichen Rechtsordnung voraussetzt, die nach vorheriger Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer eingeführt wurde. Die Feststellung, ob es im innerstaatlichen Recht eine solche Rechtgrundlage gibt und ob sie im konkreten Fall zur Anwendung kommt, ist Sache der nationalen Gerichte.
Anm d Red: Nach Art 11 RL 2006/112/EG kann jeder Mitgliedstaat - nach Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer - in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln.
2.Die Feststellung, welche Wirtschaftsteilnehmer bei einer konkreten Sachlage zusammen als ein Steuerpflichtiger angesehen werden können, fällt in vollem Umfang in die Zuständigkeit der Steuerbehörden und der Gerichte der Mitgliedstaaten.
3.Art 11 der RL 2006/112/EG ist dahin auszulegen, dass die Steuerbehörden im Rahmen seiner Anwendung Personen, die zuvor eine steuerpflichtige Tätigkeit als eigenständige Steuerpflichtige ausgeübt haben, zusammen als einen Steuerpflichtigen ansehen können. Diese Personen können rückwirkend als ein Steuerpflichtiger eingestuft werden, wenn sie die Rechte, die sich aus ihrer Eigenschaft als eigenständige Steuerpflichtige ergeben, missbraucht haben.
4.Art 296 Abs 1 und 2 der RL 2006/112/EG ist dahin auszulegen, dass er nationalen Regelungen nicht entgegensteht, nach denen die Anwendung der in dieser Bestimmung genannten Pauschalregelung nur dann versagt wird, wenn der Landwirt die an die Betriebsgröße anknüpfenden Kriterien für die Anwendung dieser Regelung nicht mehr erfüllt, etwa deshalb, weil mehrere wirtschaftlich miteinander verbundene Landwirte zusammen als ein Steuerpflichtiger angesehen werden.
5.Art 296 Abs 1 und 2 der RL 2006/112/EG ist dahin auszulegen, dass er es nicht verwehrt, die Anwendung der dort genannten Pauschalregelung gegenüber einem Landwirt, auf den sie zuvor angewandt wurde, zu versagen. Diese Versagung kann rückwirkend erfolgen, wenn die Anwendung der Pauschalregelung mit einem Rechtmissbrauch einherging.
Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 21920 vom 04.07.2016