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EuGH: Straftäter – Aberkennung des Wahlrechts für die EU-Wahlen

Bearbeiter: Sabine Kriwanek

GRC: Art 39, Art 49, Art 52

Der Verlust des aktiven Wahlrechts für die Wahlen zum Europäischen Parlament auf Lebenszeit stellt zwar eine Einschränkung der Ausübung des aktiven Wahlrechts der Unionsbürger bei den Wahlen zum Europäischen Parlament dar, das die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiert. Einschränkungen der Ausübung der Grundrechte sind jedoch zulässig, sofern sie gesetzlich vorgesehen sind, den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und den von der Union anerkannten Zielsetzungen im Interesse des Gemeinwohls oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen (hier: franz Regelung betr Straftäter als zulässig erachtet).

EuGH 6. 10. 2015, C-650/13, Delvigne

Sachverhalt

Zu einem französischen Vorabentscheidungsersuchen.

Bis zum 1. 3. 1994 sah das französische Recht vor, dass die Verurteilung wegen eines Verbrechens (mit Strafdrohung von 5 Jahren Freiheitsstrafe bis zu lebenslänglich) zum automatischen und lebenslänglichen Verlust der bürgerlichen Rechte (Wahlrecht und Wählbarkeit) führte.

Seit der Reform des Strafgesetzbuchs tritt dieser Verlust nicht mehr automatisch ein, sondern muss von einem Gericht angeordnet werden; dies kann für höchstens 10 Jahre geschehen. Die Neuregelung gilt jedoch nicht für Verurteilungen, die vor dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuchs rechtskräftig wurden.

Herr Delvigne, ein französischer Staatsangehöriger, wurde im Jahr 1988 in Frankreich wegen eines schweren Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt. Aufgrund der damals geltenden Strafvorschriften wurden ihm seine bürgerlichen Rechte automatisch und auf Lebenszeit aberkannt. Trotz der Reform des Strafgesetzbuchs im Jahr 1994 blieb der Verlust seiner bürgerlichen Rechte bestehen, weil er auf einer Verurteilung beruhte, die vor dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuchs rechtskräftig geworden war.

Herr Delvigne darf daher in Frankreich nicht mehr wählen; dies gilt auch für die Wahlen zum Europäischen Parlament. Dagegen hat Herr Delvigne Klage erhoben und das vorlegende Gericht möchte vom EuGH nun wissen, ob ein Mitgliedstaat in Anbetracht des aktiven Wahlrechts der Unionsbürger bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in einem Fall wie dem von Herrn Delvigne eine generelle, unbeschränkte und automatische Versagung der Ausübung bürgerlicher und politischer Rechte vorsehen darf.

Entscheidung

Kein unverhältnismäßiger Eingriff

Im Ausgangsverfahren ist der Verlust des aktiven Wahlrechts gesetzlich vorgesehen und die Einschränkung achtet nach Auffassung des EuGH den Wesensgehalt des aktiven Wahlrechts gem Art 39 Abs 2 GRC, weil sie dieses Recht als solches nämlich nicht in Frage stellt, sondern nur bestimmte Personen unter ganz bestimmten Voraussetzungen wegen ihres Verhaltens von den Wahlberechtigten bei den Wahlen zum Parlament ausschließt.

Weiters erachtet der EuGH die Einschränkung auch als verhältnismäßig, weil die Art und Schwere der begangenen Straftat sowie die Dauer der Strafe berücksichtigt werden. Außerdem besteht nach französischem Recht die Möglichkeit, eine Aufhebung der Nebenfolge des Verlusts der bürgerlichen Rechte, die zum Verlust seines aktiven Wahlrechts geführt hat, zu beantragen und zu erreichen.

Der EuGH hält es daher für vereinbar mit Art 39 Abs 2 GRC, wenn nationale Rechtsvorschriften wie hier Personen nach einer rechtskräftigen Verurteilung wegen eines schweren Verbrechens von Rechts wegen von den Wahlberechtigten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ausschließen.

Strafrechtsreform hier irrelevant

Dieses Ergebnis wird im vorliegenden Fall (Reform des Strafrechts im Jahr 1994) nach Ansicht des EuGH auch durch die Regel der Rückwirkung des milderen Strafgesetzes (Art 49 GRC) nicht in Frage gestellt, nach der die mildere Strafe zu verhängen ist, wenn nach Begehung einer Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt wird. Mit den französischen Rechtsvorschriften wird der Verlust des aktiven Wahlrechts ausschließlich bei rechtskräftigen Verurteilungen beibehalten, die letztinstanzlich unter der Geltung des alten Code pénal ergangen waren.

Außerdem sehen die französischen Rechtsvorschriften ausdrücklich die Möglichkeit vor, die Aufhebung des Verbots zu beantragen und zu erreichen, und zwar unabhängig davon, ob der Betreffende sein Wahlrecht in Anwendung des alten Code pénal aufgrund einer Verurteilung wegen einer Straftat von Rechts wegen verloren hat oder aufgrund einer gem den Bestimmungen des neuen Code pénal von einem Gericht verhängten Nebenstrafe. Die Anrufung eines zuständigen nationalen Gerichts nach dieser Bestimmung eröffnet mithin die Möglichkeit, dass die individuelle Situation des Betroffenen neu bewertet wird, auch hinsichtlich der Dauer des Verlusts des Wahlrechts.

Der EuGH hat daher für Recht erkannt:

Die Art 39 Abs 2 und 49 Abs 1 Satz 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, von den Wahlberechtigten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament von Rechts wegen Personen wie Herrn Delvigne ausschließen, deren Verurteilung wegen eines schweren Verbrechens vor dem 1. 3. 1994 rechtskräftig geworden war.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 20349 vom 07.10.2015