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EuGH: Verjährung bei MwSt-Betrug zum Nachteil der EU

Bearbeiter: Barbara Tuma

AEUV: Art 325

Art 325 Abs 2 AEUV verpflichtet die Mitgliedstaaten, zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten (hier: gravierende Mehrwertsteuerstraftaten), die gleichen Maßnahmen zu ergreifen wie zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten. Würden daher die innerstaatlichen Verjährungsvorschriften für schwere Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU kürzere Verjährungsfristen vorsehen als für Fälle zum Nachteil des betreffenden Mitgliedstaats oder würden sie in zahlreichen schweren Betrugsfällen zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU der Verhängung wirksamer und abschreckender strafrechtlicher Sanktionen entgegenstehen, dürfen die nationalen Gerichte diese innerstaatlichen Verjährungsvorschriften grds nicht anwenden.

Sollte es dadurch jedoch wegen mangelnder Bestimmtheit der anwendbaren Norm oder wegen der rückwirkenden Anwendung von strengeren Strafbarkeitsbedingungen zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit iZm Straftaten und Strafen kommen, dürfen die Verjährungsbestimmungen angewendet werden.

EuGH 5. 12. 2017, C-42/17, M.A.S. und M.B.

Ausgangsfall

Zu einem italienischen Vorabentscheidungsersuchen.

Bereits im Urteil EuGH 8. 9. 2015, C-105/14, Taricco ua, EU:C:2015:555, ÖStZB 2017/156, hat der EuGH entschieden, dass die italienischen Rechtsvorschriften über die Verjährung von Mehrwertsteuerstraftaten Art 325 AEUV verletzen könnten. Die nationalen Gerichte müssten daher Art 325 AEUV volle Wirkung verleihen, indem sie erforderlichenfalls die Verjährungsvorschriften unangewendet lassen.

Der italienische Verfassungsgerichtshof hegt nunmehr aber Zweifel an der Vereinbarkeit einer solchen Vorgangsweise mit den obersten Grundsätzen der italienischen Verfassungsordnung und den unveräußerlichen Rechten der Person; insbesondere verstoße sie möglicherweise gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit iZm Straftaten und Strafen, der ua das Bestimmtheitsgebot und das Rückwirkungsverbot in Strafsachen beinhalte.

In den gegenständlichen Strafverfahren geht es um betrügerische Mehrwertsteuererklärungen durch Gebrauch von Rechnungen für inexistente Umsätze, die vor Veröffentlichung des Urteils Taricco begangen wurden und bei Anwendung der Verjährungsvorschriften des italienischen Strafgesetzbuchs straflos blieben.

Entscheidung

In seinen Entscheidungsgründen weist der EuGH ua darauf hin, dass es in erster Linie Aufgabe des nationalen Gesetzgebers ist, die Verjährung so zu regeln, dass sie den Anforderungen des Urteils Taricco genügt, und dass die Verlängerung einer Verjährungsfrist für noch nicht verjährte Straftaten durch den nationalen Gesetzgeber idR keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit iZm Straftaten und Strafen darstellt.

Im vorliegenden Fall waren die Rechtsvorschriften über die Verjährung von Straftaten im Bereich der Mehrwertsteuer zur maßgeblichen Zeit des Ausgangsverfahrens auf Unionsebene noch nicht harmonisiert; dies ist erst durch die RL (EU) 2017/1371 teilweise geschehen. Es stand Italien damals also frei, die Rechtsvorschriften über die Straftatbestände, das Strafmaß und die Verjährung dem materiellen Strafrecht zuzuordnen und sie ebenso dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit iZm Straftaten und Strafen zu unterwerfen.

Abgesehen davon gehört der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit iZm Straftaten und Strafen zu den gemeinsamen verfassungsrechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten und ist in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen festgeschrieben worden, ua in Art 7 Abs 1 EMRK. Dieselbe Bedeutung und dieselbe Tragweite hat das in Art 49 GRC garantierte Recht (vgl dazu die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte).

Zu den Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit iZm Straftaten und Strafen ergeben, haben EGMR Und EuGH bereits entschieden,

-dass die Strafvorschriften hinsichtlich der Definition des Straftatbestands und des Strafmaßes bestimmten Anforderungen an die Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit genügen müssen,
-dass das Gesetz die Straftaten und die angedrohten Strafen klar definieren muss (Bestimmtheitsgebot) und
-dass keine Strafe verhängt werden darf, wenn die Straftat nicht durch eine vor ihrer Begehung erlassene nationale Rechtsvorschrift verboten war, bzw dass die Regelung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit derer, gegen die sich das Verfahren richtet, nicht verschärft werden darf (Rückwirkungsverbot).

Die Erfordernisse der Vorhersehbarkeit, der Bestimmtheit und des Rückwirkungsverbots gelten in der italienischen Rechtsordnung auch für die Regelung der Verjährung von Mehrwertsteuerstraftaten. Das nationale Gericht muss daher prüfen, ob die Feststellung, dass die italienischen Verjährungsregelungen die Verhängung von wirksamen und abschreckenden Strafen in einer beträchtlichen Anzahl schwerer Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union verhindern, in der italienischen Rechtsordnung hinsichtlich der Bestimmung der anwendbaren Verjährungsregelung eine Unsicherheit schafft, die gegen den Grundsatz der Bestimmtheit des anzuwendenden Rechts verstößt. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, sind die nationalen Gerichte nicht verpflichtet, die Verjährungsbestimmungen unangewendet zu lassen.

Weiters ist es mit den genannten Erfordernissen nicht vereinbar, dass das nationale Gericht die einschlägigen Verjährungsbestimmungen in Verfahren gegen Personen unangewendet lässt, denen zur Last gelegt wird, vor der Verkündung des Urteils Taricco Mehrwertsteuerstraftaten begangen zu haben; damit würden für sie nämlich rückwirkend strengere Strafbarkeitsbedingungen gelten als zur Zeit der Begehung der Straftat (vgl bereits Rn 53 des Urteils Taricco).

Sollte das nationale Gericht also zur Auffassung gelangen, dass der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit iZm Straftaten und Strafen der Verpflichtung entgegensteht, darf es die einschlägigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs anwenden, selbst wenn dadurch einer nationalen Sachlage nicht abgeholfen wird, die mit dem Unionsrecht unvereinbar ist. Wie bereits erwähnt, ist es dann Sache des nationalen Gesetzgebers, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

Der EuGH hat für Recht erkannt:

Art 325 Abs 1 und 2 AEUV ist dahin auszulegen, dass die nationalen Gerichte verpflichtet sind, im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Mehrwertsteuerstraftaten innerstaatliche Verjährungsvorschriften, die zum nationalen materiellen Recht gehören und der Verhängung wirksamer und abschreckender strafrechtlicher Sanktionen in einer beträchtlichen Anzahl von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichteten schweren Betrugsfällen entgegenstehen oder für schwere Betrugsfälle zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Union kürzere Verjährungsfristen vorsehen als für Fälle zum Nachteil der finanziellen Interessen des betreffenden Mitgliedstaats, unangewendet zu lassen, es sei denn, ihre Nichtanwendung führt wegen mangelnder Bestimmtheit der anwendbaren Rechtsnorm oder wegen der rückwirkenden Anwendung von Rechtsvorschriften, die strengere Strafbarkeitsbedingungen aufstellen als die zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat geltenden Rechtsvorschriften, zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit iZm Straftaten und Strafen.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 24609 vom 06.12.2017