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Humanitärer Aufenthaltstitel bei „häuslicher Gewalt“

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

AsylG 2005: § 57, § 75

Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ nach § 57 AsylG 2005 gegeben sind, hat der allfälligen Erlassung einer Rückkehrentscheidung voranzugehen; ist nämlich ein Titel nach § 57 AsylG 2005 zu erteilen, so erweist sich die Erlassung einer Rückkehrentscheidung als unzulässig.

Steht fest, dass die Drittstaatsangehörige körperlichen Angriffen und Drohungen ihres (geschiedenen) Ehemannes ausgesetzt war und daher grds eine einstweilige Verfügung nach § 382b oder § 382e EO erlassen hätte werden können, ist als weitere Voraussetzung für den Aufenthaltstitel nach § 57 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 zu prüfen, ob dieser zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist. Dabei ist auf die Situation im Herkunftsland abzustellen. Droht der Drittstaatsangehörigen dort von ihrem geschiedenen Ehemann und dessen dort lebenden Verwandten Gewalt, wäre der Aufenthaltstitel nach § 57 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 nur dann nicht erforderlich, wenn feststünde, dass im Herkunftsland ausreichender staatlicher Schutz vor derartigen Bedrohungen gewährleistet ist.

VwGH 12. 11. 2015, Ra 2015/21/0023 bis 0024

Entscheidung

Zur Übergangsbestimmung des § 75 Abs 20 AsylG 2005 stellt der VwGH klar, dass auch bei einer Zurückverweisung nach dieser Übergangsbestimmung an das BFA zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung in diesem Verfahren zunächst die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 57 AsylG 2005 zu prüfen ist.

Gemäß § 57 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen, wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

Im vorliegenden Fall ist unstrittig, dass eine einstweilige Verfügung nach § 382b oder § 382e EO nicht erlassen worden ist, das BVwG hat im angefochtenen Erkenntnis aber nicht begründet, warum eine solche auch nicht erlassen werden hätte können. Die Erstrevisionswerberin hat sowohl körperliche Angriffe als auch Drohungen durch ihren (geschiedenen) Ehemann behauptet und zur Untermauerung ihres Vorbringens auch eine Strafanzeige vorgelegt. Anders als das BVwG hält der VwGH diese Behauptungen nicht nur für „vage und unbestimmt“; das BvwG hätte sich daher mit diesen Behauptungen näher auseinandersetzen und Feststellungen zu den Angriffen und Drohungen treffen müssen, wozu zweckmäßigerweise auch in die Akten des Strafverfahrens Einsicht zu nehmen gewesen wäre. Nur auf Basis solcher Feststellungen wäre eine Beurteilung dahingehend möglich gewesen, ob eine einstweilige Verfügung nach § 382b oder § 382e EO erlassen werden hätte können.

Bejahendenfalls wäre weiters zu erheben gewesen, ob der Aufenthaltstitel nach § 57 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist. Die Glaubhaftmachung dieser Voraussetzung obliegt der Erstrevisionswerberin, es ist aber nach Ansicht des VwGH verfehlt, so wie das BVwG nur darauf abzustellen, dass es seit der räumlichen Trennung der Ehepartner abgesehen von behaupteten Drohungen bei der Besuchsrechtsausübung zu keiner tatsächlichen Gewaltausübung mehr gekommen ist. Vielmehr sei die Situation im Herkunftsland in den Blick zu nehmen, wo der Erstrevisionswerberin - nach ihren Behauptungen - im Fall der Abschiebung sowohl von ihrem ebenfalls einer Ausreiseverpflichtung nach Armenien unterliegenden geschiedenen Ehemann als auch von dessen dort lebenden Verwandten Gewalt droht. Sollten diese Behauptungen zutreffen, wäre der Aufenthaltstitel nach § 57 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 nur dann nicht zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich, wenn feststünde, dass in Armenien ausreichender staatlicher Schutz vor derartigen Bedrohungen gewährleistet ist. Diese Beurteilung setzt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Situation in Armenien in Bezug auf den Schutz vor Gewalt an Frauen voraus, insb mit dem im Verfahren vorgelegten Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 21047 vom 03.02.2016