News

Strafrechtliche Rechtshilfe – Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK?

Bearbeiter: Barbara Tuma

StPO: § 363a

EMRK: Art 6

Strafrechtliche Verfahren, deren (unmittelbarer) Gegenstand nicht die Entscheidung über Schuld oder Nichtschuld des Beschuldigten/Angeklagten ist – die also nicht per se auf die Prüfung einer strafrechtlichen Anklage abzielen –, fallen nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des Art 6 MRK.

Somit liegen auch Rechtshilfeverfahren, die (im ersuchten Staat) als solche nicht die Prüfung einer strafrechtlichen Anklage betreffen, außerhalb des Schutzbereichs des Art 6 MRK. Liegt kein Ausnahmefall vor (wie etwa die reale Gefahr einer elementaren Verletzung des Fairness-Grundsatzes im Strafverfahren des ersuchenden Staats, die der Betroffene substantiiert nachzuweisen hat, oder eigene Verletzungen der Garantien des Art 6 MRK durch den ersuchten Staat in Erfüllung der angefragten Rechtshilfemaßnahme), kann ein Erneuerungsantrag, der – wie hier – ausschließlich auf die Garantien des Art 6 MRK gestützt wird, nicht erfolgreich sein.

OGH 25. 6. 2019, 11 Os 28/19f ua

Ausgangsfall

Über Rechtshilfeersuchen der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine bewilligte die Einzelrichterin des LGSt Wien die Anordnungen der Staatsanwaltschaft auf Erteilung der Auskunft über Bankkonten und Bankgeschäfte gem §§ 109 Z 4, 116 Abs 1, Abs 2 Z 1 StPO. Den Beschwerden dagegen gab das OLG Wien nicht bzw nur im Umfang einer geringfügigen Einschränkung des abgefragten Zeitraums Folge.

Gegen diese Beschlüsse richten sich Anträge der Betroffenen auf Erneuerung des Strafverfahrens, wobei jeweils eine Verletzung des Art 6 MRK behauptet wird.

Entscheidung

Unter ausführlicher Darstellung der Rsp – auch des EGMR – und der Lit hält der OGH in seinen Entscheidungsgründen im Wesentlichen fest:

Rechtshilfeverfahren – grds keine Berufung auf Art 6 EMRK

Anknüpfungskriterium für die sachliche Anwendbarkeit des Art 6 Abs 1 bis Abs 3 MRK auf (nationale) Strafverfahren ist die Entscheidung über die Stichhältigkeit einer „strafrechtlichen Anklage“. Der EGMR legt diesen Begriff autonom aus – also unabhängig von der Rechtstradition der (jeweiligen) Konventionsstaaten. Entscheidend bei der Beurteilung, ob eine „strafrechtliche Anklage“ iSd Konvention vorliegt, ist hierbei eine positive Prüfung anhand der sogenannten „Engel-Kriterien“ („Leitentscheidung“ EGMR 8. 6. 1971, Engel ua/NED, 5100/71, sowie EGMR 9. 6. 2005, Dannemann/GER, 62512/00 und EGMR 23. 11. 2006, Jussila/FIN, 73053/01, in denen der EGMR diesen Kriterienkatalog ausdrücklich [weiterhin] aufrechterhält), die sowohl alternativ als auch kumulativ zur Begründung der Anwendbarkeit der Garantien des Art 6 MRK auf das nationale Verfahren herangezogen werden können.

Aus der Koppelung an den Begriff der „Anklage“ folgt, dass strafrechtliche Verfahren, deren (unmittelbarer) Gegenstand nicht die Entscheidung über Schuld oder Nichtschuld des Beschuldigten/Angeklagten ist, – die also nicht per se auf die Prüfung einer strafrechtlichen Anklage abzielen – nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des Art 6 MRK fallen. Dazu zählen nach der Rsp des EGMR etwa die Überprüfung der Untersuchungshaft, der Strafvollzug sowie Maßnahmen zur Sicherung oder Vorbeugung.

Nach hA ist die Rsp des EGMR grundsätzlich dahingehend zu verstehen, dass Abschiebungen, Auslieferungen und Rechtshilfeverfahren (im ersuchten Staat) als solche nicht die Prüfung einer strafrechtlichen Anklage betreffen und somit außerhalb des Schutzbereichs des Art 6 MRK liegen. Das Rechtshilfeverfahren sei nämlich seinem Wesen nach ein verwaltungsrechtliches Verfahren, in dem Schuld oder Nichtschuld des Betroffenen idR nicht geprüft würden.

Ausnahmefälle – Berufung auf Art 6 EMRK möglich

Eine Berufung auf Art 6 MRK wäre allerdings in folgenden Fallkonstellationen ausnahmsweise auch in Rechtshilfesachen möglich:

-Wenn im Strafverfahren des ersuchenden Staats eine elementare Verletzung des Fairness-Grundsatzes („flagrant denial of justice“) droht („real risk“), die so eklatant ist, dass die Fairnessgarantie in ihrem Kern aufgehoben oder zerstört wird (so etwa bei Verwertung von durch Folter erlangter Beweismittel oder bei struktureller Verweigerung des Zugangs zu einer anwaltlichen Vertretung). Dabei ist zu beachten, dass der EGMR Art 6 MRK in diesem Kontext nur ausnahmsweise als verletzt erachtet und zudem bloße Zweifel am Bestehen eines fairen Verfahrens (im ersuchenden Staat) eben so wenig genügen wie der alleinige Umstand, dass es in besagtem Staat bereits in der Vergangenheit regelmäßig Konventionsverstöße gegeben hat. Der Betroffene muss vielmehr den substantiierten Nachweis des Risikos einer Verletzung seiner diesbezüglichen Rechte erbringen. Zudem besteht für einen Konventionsstaat prinzipiell keine Verpflichtung, die Einhaltung der EMRK in einem anderem Konventionsstaat in gleichem Maße zu überprüfen wie dies in Anbetracht eines Nicht-Konventionsstaats geboten wäre.
-Im Rahmen von (enger) transnationaler justizieller Zusammenarbeit in Strafverfahren wird aufgrund des dann vorliegenden „close link“ zwischen dem Ausgangsstrafverfahren (im ersuchenden Staat) und dem Rechtshilfeverfahren (im ersuchten Staat) von einer insofern universellen Geltung des Art 6 MRK ausgegangen; so etwa in besonderen Fallvarianten einer Auslieferung zur Strafvollstreckung.
-Eigene Verletzungen der Garantien des Art 6 MRK durch den ersuchten Staat in Erfüllung der angefragten Rechtshilfemaßnahme, wie etwa durch Verletzung des Rechts auf Verteidigerbeistand für den Beschuldigten im Zuge einer (ersuchten) Vernehmung. Gleiches gilt für den ersuchenden Staat, der sich seiner eigenen Verpflichtungen (in Ansehung des von ihm geführten Strafverfahrens) nicht dadurch entledigen kann, dass er Ermittlungsmaßnahmen im Wege der Rechtshilfe von einem anderen Staat durchführen lässt.

Für den dargestellten Ausnahmecharakter der Anwendbarkeit des Art 6 MRK auf Rechtshilfeverfahren im ersuchten Staat spricht auch, dass die konventionsrechtliche Verantwortung jedes Mitgliedstaats grundsätzlich auf jene Maßnahmen beschränkt ist, die seiner eigenen Hoheitsgewalt zuzurechnen sind. Es besteht insoweit im Regelfall auch keine Verpflichtung eines Konventionsstaats, für die Missachtung der Konventionsrechte in einem anderen (Konventions-)Staat einstehen zu müssen („Trennungsprinzip“).

Zurückweisung der Erneuerungsanträge

Mit seiner E OGH 1. 8. 2007, 13 Os 135/06m, Rechtsnews 3347, hat der OGH die Anwendbarkeit des § 363a StPO wegen planwidriger Lückenhaftigkeit in den §§ 363a ff StPO auf jene Fälle erweitert, in denen (noch) kein Urteil des EGMR vorliegt. In diesem erweiterten Anwendungsbereich muss der Erneuerungswerber bzw Bf sämtliche vor dem EGMR geltenden Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 MRK auch gegenüber dem OGH (sinngemäß) erfüllen. Ein Erneuerungsantrag ohne vorherige Befassung des EGMR führt systembedingt zu einer sogenannten „Grobprüfung“ der behaupteten Verletzung auf Grundrechts- bzw Verfassungsebene, ermöglicht jedoch keine detaillierte Überprüfung auf einfachgesetzlicher Ebene. Eine derartige sogenannte „Feinprüfung“ würde vom OGH nur anlässlich einer Nichtigkeitsbeschwerde der Generalprokuratur zur Wahrung des Gesetzes vorgenommen. In Erneuerungsverfahren beschränkt sich die Prüfung des OGH somit allein auf die reklamierte Verletzung eines Rechts nach der MRK oder einem ihrer Zusatzprotokolle. Daher ist für das Erneuerungsverfahren aus den einfachgesetzlichen Verweisen auf die „Grundsätze de[s] ... Art 6 MRK“ (§§ 51 Abs 1 Z 2 iVm 19 Z 1 ARHG) nichts für einen Art 6 MRK umfassenden Prüfungsumfang zu gewinnen (s bereits 13 Os 71/13k).

Im vorliegenden Fall haben sich die Erneuerungswerber im Gegenstand ausschließlich auf die Garantien des Art 6 MRK gestützt, ohne substrathaft die oben erörterten Kriterien für eine ausnahmsweise Geltung dieses Grundrechts in Rechtshilfeverfahren anzusprechen. Ihrem Begehren war daher kein Erfolg beschieden.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 27628 vom 18.07.2019