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VfGH: Parteiantrag auf Normenkontrolle auch ohne eigenes Rechtsmittel

Bearbeiter: Barbara Tuma

B-VG Art 140 Abs 1 Z 1 lit d

VfGG § 62a

Es widerspricht den Intentionen des Verfassungsgesetzgebers, die Befugnis zur Stellung eines Gesetzesprüfungsantrags auf jene Partei des erstinstanzlichen Verfahrens zu beschränken, die ein Rechtsmittel gegen die erstinstanzliche Entscheidung ergriffen hat. Vielmehr müssen beide Parteien die Möglichkeit haben, im Wege von Parteianträgen an den VfGH eine verfassungsrechtlich einwandfreie Rechtsgrundlage für die Entscheidung ihrer Rechtssache herbeizuführen - also auch die in erster Instanz (vollständig) obsiegende Partei für den Fall, dass nur die unterlegene Partei ein Rechtsmittel ergriffen hat.

Der VfGH hat daher mehrere Wortfolgen in § 62a VfGG (idgF) als verfassungswidrig aufgehoben. Im Hinblick auf den Umfang der Aufhebung war eine Frist für das Außerkrafttreten nicht erforderlich; die aufgehobenen Bestimmungen sind nicht mehr anzuwenden und frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.

VfGH 2. 7. 2016, G 95/2016

Entscheidung

Intention des Gesetzgebers

Die geprüften Bestimmungen in § 62a VfGG dienen der Ausführung von Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG und der VfGH hat in seinem Prüfungsbeschluss bereits das Bedenken geäußert, dass die Bindung des Parteiantrags an die Erhebung eines Rechtsmittels Art 140 B-VG („aus Anlass eines gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittels“) widerspricht. In der Begründung des vorliegenden Erk setzt er sich ausführlich mit den Gegenargumenten der Bundesregierung auseinander, sodass sich letztlich im Wesentlichen folgende Argumentationslinie ergibt:

Die Bedenken des VfGH beruhen in erster Linie auf der Absicht des Gesetzgebers, wie sie in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommt (Abänderungsantrag AA-336, 24. GP, der die nunmehr geltende Fassung von Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG herbeigeführt hat). Darin heißt es ua, dass die Formulierung 'aus Anlass eines ... Rechtsmittels' „bloß [bedeute], dass überhaupt ein Rechtsmittel erhoben worden sein muss“, und dass „dadurch klargestellt [werde], dass nicht bloß jene Partei antragsbefugt ist, die das Rechtsmittel erhoben hat, sondern alle Parteien des Verfahrens, insb auch jene, die aufgrund einer möglichen abweichenden zweitinstanzlichen Entscheidung aufgrund des Rechtsmittels negativ betroffen sein kann.“ (AA-336, 24. GP, 3).

Weiters ist nach Ansicht des VfGH die Textierung von Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG entscheidend: „... als Partei einer von einem ordentlichen Gericht in erster Instanz entschiedenen Rechtssache wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet“. Bei dieser Textierung habe der Verfassungsgesetzgeber auf den Wortlaut des Art 144 B-VG zurückgegriffen. Dementsprechend erinnert der VfGH auch an seine stRsp dazu (vgl zur Berührung der subjektiven Rechtssphäre zB VfSlg 15.044/1997, 19.595/2011; zur bloßen Möglichkeit der behaupteten Rechtsverletzung vgl VfSlg 15.455/1999, 15.498/1999, 17.548/2005; zur Anlegung eines objektiven Maßstabes zur Beurteilung des Eingriffs in die Rechtssphäre siehe VfSlg 19.192/2010, 19.595/2011). Abschließend hält er dazu fest, dass es also nicht entscheidend ist, dass die mögliche Rechtsverletzung durch die bekämpfte Entscheidung eine Folge jener generellen Norm ist, deren Rechtswidrigkeit vor dem VfGH behauptet wird.

Nach Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen Art 144 B-VG und Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG stellt der VfGH klar, dass nur die Bedingung, dass überhaupt ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Erstgerichts erhoben wird, Voraussetzung dafür ist, dass die Parteien im Wege von Parteianträgen an den VfGH eine verfassungsrechtlich einwandfreie Rechtsgrundlage für die Entscheidung ihrer Rechtssache herbeiführen können. Ebenso wie im Verfahren nach Art 144 B-VG könnten dabei die Parteien des Verfahrens im Rahmen des § 62a Abs 1 VfGG jede Rechtsvorschrift vor dem VfGH bekämpfen, die Voraussetzung der Entscheidung der ordentlichen Gerichte ist. Unter „Rechtssache“ iSd Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG sei nicht nur der Gegenstand der Entscheidung des Gerichts erster Instanz zu verstehen, sondern die Rechtssache, die Gegenstand des Rechtsstreits im Instanzenzug der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist.

Als weiteres Argument dient dem VfGH, dass eine „Waffengleichheit“ im Rechtsmittelverfahren zwischen den beiden Prozessparteien nur dann besteht, wenn beide aus Anlass des Rechtsmittelverfahrens in gleicher Weise die verfassungsmäßige Grundlage der anzuwendenden Rechtsvorschriften vor den VfGH bringen können.

Für den VfGH folgt daher im Ergebnis, dass auch der in erster Instanz (vollständig) obsiegenden Partei, die im Falle eines Rechtsmittelverfahrens entsprechend Prozessgegner ist, vom Gesetzgeber die Möglichkeit einer Antragstellung einzuräumen ist.

Diese Überlegungen seien auf den Strafprozess grundsätzlich insoweit übertragbar: Auch dem vom Strafverfahren Betroffenen solle der Parteiantrag offenstehen, wenn die Anklagebehörde ein Rechtsmittel ergreift.

Aufhebung

In § 62a VfGG (in der diesbezüglich geltenden Fassung BGBl I 2014/92) werden daher als verfassungswidrig aufgehoben:

-in § 62a Abs 1 erster Satz VfGG die Wortfolge „rechtzeitig ein zulässiges Rechtsmittel erhebt und“ sowie das Wort „gleichzeitig“;
-in § 62a Abs 3 Z 1 VfGG die Wortfolge „, gegen die die Partei ein Rechtsmittel erhebt,“ und
-in § 62a Abs 4 VfGG die Wortfolge „, gegen die die Partei ein Rechtsmittel erhebt,“.

Die aufgehobenen Bestimmungen sind nicht mehr anzuwenden. Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Kraft.

Zum Umfang der Aufhebung

Im Hinblick auf den Umfang der Aufhebung hält der VfGH den verbleibenden Teil des § 62a VfGG für einer Vollziehung in verfassungskonformer Weise zugänglich und eine Frist für das Außerkrafttreten daher für nicht erforderlich.

Ausgehend vom Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers könne der VfGH die Rechtzeitigkeit eines Parteiantrags unmittelbar vor dem Hintergrund des Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG beurteilen. Dafür reichen die Angaben nach dem verbleibenden Teil des § 62a Abs 3 VfGG aus, weil sich aus ihnen ergibt, aus Anlass welchen Rechtsmittels der Antrag gestellt wird und wie das zeitliche Verhältnis zwischen der Erhebung des Rechtsmittels und dem Antrag vor dem VfGH ist. Ein Parteiantrag des Rechtsmittelwerbers ist nach Auffassung des VfGH grundsätzlich dann rechtzeitig, wenn er innerhalb der Rechtsmittelfrist gestellt wird, und ein Parteiantrag des Rechtsmittelgegners, wenn er - jedenfalls bei zweiseitigen Rechtsmitteln - während der Frist zur Beantwortung des Rechtsmittels erfolgt.

Die Wendung „dieses Rechtsmittels anzuschließen“ im verbleibenden Text des § 62a Abs 4 VfGG lässt sich nach Ansicht des VfGH dahingehend deuten, dass eine Abschrift oder Kopie jenes Rechtsmittels anzuschließen ist, das das Rechtsmittelverfahren ausgelöst hat, auch wenn es nicht von jener Partei erhoben wurde, die den Antrag gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG an den VfGH stellt.

Der Ausspruch, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten, bewirkt, dass bereits anhängige Verfahren und künftig eingebrachte Parteianträge gemäß Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG auf Grund des § 62a VfGG in der bereinigten Fassung zu beurteilen sein werden.

Anmerkung:

Kundgemacht wurde die Aufhebung in BGBl I 2016/78, ausgegeben am 3. 8. 2016.

In seinem Erk berücksichtigt der VfGH bei Wiedergabe des § 62a VfGG die Aufhebung diverser Wortfolgen bis inkl BGBl I 2016/15, noch nicht allerdings die Aufhebungen, die mit BGBl I 2016/58 (betr Abs 1 Z 10) und BGBl I 2016/59 (betr Abs 1 Z 4) kundgemacht wurden. Die geprüften Bestimmungen waren jedoch auch durch diese Aufhebungen nicht betroffen; sie stammen aus der Fassung BGBl I 2014/92.

Die hier geprüften Bestimmungen (Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen) sind wortgleich in § 57a VfGG enthalten (Kontrolle der Gesetzmäßigkeit von Verordnungen); auch die Prüfung dieser Regelungen hat der VfGH bereits beschlossen (VfGH 2. 7. 2016, V 121/2015 ua [G 254/2016]).

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 22123 vom 09.08.2016