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Zur Berechnung der kalten Progression - Eine Richtigstellung

Univ.-Prof. Dr. Viktor Steiner / Dr. Florian Wakolbinger, Freie Universität Berlin / GAW mbH Innsbruck

Unsere seit April 2014 regelmäßig auf Basis des Mikrosimulationsmodells ATTM vorgelegten Berechnungen zum Ausmaß der kalten Progression haben eine intensive Debatte in Österreich ausgelöst. Unter anderem hat Anton Rainer im Heft 12/2014 dieser Zeitschrift1 alternative Schätzungen publiziert und dabei unsere Zahlen als zu hoch kritisiert. Tatsächlich sind jedoch die von Rainer ausgewiesenen Zahlen zu niedrig, wie dies kürzlich auch der parlamentarische Budgetdienst2 festgestellt hat.

Die Berechnungen von Rainer sind deshalb falsch, weil er, anstatt des durchschnittlichen individuellen Lohnwachstums, seinen Berechnungen das Wachstum der Lohnsumme zugrunde legt. Letztere wächst aber auch, wenn die Anzahl Beschäftigter wächst und nicht nur, wenn die Individuallöhne steigen. Zudem basieren seine Berechnungen zur Schätzung der kalten Progression nur auf der Lohnsteuer und inkludieren nicht die veranlagte Einkommensteuer. Im Folgenden wollen wir daher die in ÖStZ 2014/453 publizierten Berechnungen ausführlicher kommentieren und richtigstellen.

Wenn unter einem progressiven Tarifsystem die individuellen Löhne und Gehälter ansteigen, führt das dazu, dass auch die individuelle Steuerbelastung überproportional ansteigt (Steuerprogression). Steigen gleichzeitig die Preise, so kompensiert ein Teil der individuellen Lohnsteigerung jedoch lediglich die Preissteigerungen. Dieser Teil sollte nach der üblichen Definition der "kalten Progression" nicht zur Steuerprogression führen. Diese Definition der kalten Progression liegt auch implizit den Berechnungen von Rainer zugrunde.3 Die kalte Progression kann dabei retrospektiv für jedes vom LSt/ESt-Tarif betroffene Individuum berechnet werden. Sie ist als solche damit ein Phänomen, das das Individuum betrifft. In Summe hat der Staat im Zeitraum von 2010 bis inkl 2015 dadurch Mehreinnahmen in der Höhe von 11,2 Mrd € erzielt.4

Demgemäß sind zur Ermittlung der gesamten Verluste aller Steuerzahler, die aufgrund der kalten Progression entstehen, möglichst Methoden heranzuziehen, die auf individuellen Daten basieren. Allerdings sind unter bestimmten Annahmen auch Berechnungen auf Basis gesamtwirtschaftlicher Daten, so wie von Rainer durchgeführt, denkbar. Dabei werden die Verluste aufgrund der kalten Progression grundsätzlich so, wie man sie auf individueller Ebene berechnen würde, ermittelt. Die Basis bilden dabei allerdings gesamtwirtschaftliche Aggregate, wie das gesamte Steueraufkommen anstatt der individuellen Steuerbelastung, oder das durchschnittliche anstatt des individuellen Lohnwachstums. Rainer ermittelt auf Basis dieser Herangehensweise die in Tabelle 1 ausgewiesenen Werte.

Zunächst berechnet Rainer für die Jahre 2010 - 2013 die "Progression im weiteren Sinne" (Progression iwS). Diese ist die Differenz zwischen dem im jeweiligen Jahr tatsächlich beobachteten Steueraufkommen und dem (hypothetischen) Steueraufkommen, das entstanden wäre, wenn es seit 2009 keine Steuerprogression gegeben hätte. Die Berechnung basiert dabei ausschließlich auf der Lohnsteuer, die veranlagte Einkommensteuer wird hingegen vernachlässigt. In weiterer Folge wird auf Basis von Inflationsdaten und "realer" Lohnsteigerung (jeweils seit 2009) der "kalte" Teil der Progression herausgerechnet. Die "reale" Lohnsteigerung soll dabei das Ausmaß angeben, mit dem die Löhne stärker als die Preise gestiegen sind und somit die Kaufkraft tatsächlich erhöht haben.

Für das Jahr 2013 gibt Rainer beispielsweise an, dass die kumulierte Inflation 10 % und die "reale" Lohnsteigerung 3,1 % betragen hätten (jeweils im Vergleich mit 2009). Etwa drei Viertel oder 10 %/(10 % + 3,1 %) der Progression iwS, insgesamt also 1.428 Mio €, wären somit kalt. Denn dieser Teil der gesamten Progression iwS resultiert aus Lohnsteigerungen, die nur die im selben Zeitraum aufgetretenen Preissteigerungen kompensieren.

Ein Viertel (442 Mio €) der Progression iwS wäre jedoch auf "reale", dh über die Inflation hinausgehende Lohnsteigerungen, zurückzuführen. Dieses Viertel stellt Mehreinnahmen des Staates dar, die aus systemischer Sicht gerechtfertigt erscheinen, da sie nicht aus der Kompensation von Preissteigerungen resultieren. Wir bezeichnen sie hier als "Residualprogression".


Tabelle 1: Berechnungen von Rainer (2014)
Progression iwSInflation seit 2009"reale" Lohnsteigerung seit 2009kalte ProgressionResidual-progression
JahrMio €Mio €Mio €
2009
20103631,9 %0,2 %33627
20117865,2 %0,7 %69393
20121.6207,8 %2,2 %1.262358
20131.87010,0 %3,1 %1.428442
Quelle: Rainer in ÖStZ 2014/453

In den beiden vorhergehenden Absätzen sowie in Tabelle 1 haben wir den Begriff "real" mit Anführungszeichen versehen, da es das von Rainer für 2009 - 2013 angenommene "reale" Lohnwachstum im angegebenen Zeitraum nicht gegeben hat. Denn die von ihm verwendeten Werte beziehen sich auf das Wachstum der Summe aller Löhne und Gehälter, dh der Lohn- und Gehaltssumme, und diese steigt auch bei steigender Beschäftigung. Wie Tabelle 2 zeigt, ist die Lohn- und Gehaltssumme im Zeitraum 2009 - 2013 wie von Rainer angegeben um 13,3 % und somit stärker als die Preise (10 %) gewachsen. Betrachtet man allerdings die durchschnittlichen individuellen Löhne von ganzjährig Vollzeitbeschäftigten, so zeigt sich, dass diese von 2009 (34.945 € brutto) bis 2013 (38.270 € brutto) um lediglich 9,5 % und somit sogar etwas weniger stark als die Preise gewachsen sind.5

Es gab also in diesem Zeitraum kein "reales", dh über das Preiswachstum hinausgehendes, Lohnwachstum. Ganz im Gegenteil: Die Reallöhne sind im Zeitraum 2009 - 2013 sogar leicht gesunken. Das von Rainer ausgewiesene Wachstum der Summe aller individuellen Löhne und Gehälter resultiert daher aus einem Wachstum der Beschäftigung. In Zahlen: Im Jahr 2009 waren in Österreich 3,85 Mio, im Jahr 2013 hingegen schon 4,13 Mio Personen unselbständig beschäftigt. 6


Tabelle 2: Entwicklung individueller Löhne und Gehälter vs Entwicklung der Lohn- und Gehaltssumme
Summe aller Löhne und Gehälterdurchschnittliche individuelle Löhne und GehälterInflation seit 2009
JahrMio €Veränderung gegenüber 2009Veränderung gegenüber 2009
2009113.06934.945
2010115.3472,0 %35.4741,5 %1,9 %
2011119.7945,9 %36.2733,8 %5,2 %
2012124.60810,2 %37.3176,8 %7,8 %
2013128.16213,3 %38.2709,5 %10,0 %
Quelle: Rainer in ÖStZ 2014/453 und RH in Einkommensbericht 2014

Was bedeutet das für die Berechnung der kalten Progression? Wenn die Löhne genauso stark oder, wie im gegenständlichen Fall, sogar etwas langsamer als die Preise wachsen, so ist die gesamte im Steueraufkommen beobachtete Progression kalt. Denn in diesem Fall gibt es keine Erhöhung der Kaufkraft, die eine Progression "rechtfertigen" würde. Für das Jahr 2013 müsste die gemäß Rainer ausgewiesene kalte Progression bei Lohnsteuerzahlern somit 1,87 Mrd € und nicht wie von Rainer angegeben 1,43 Mrd Euro betragen. Anders formuliert: Der Staat hat im Jahr 2013 um 1,87 Mrd € "zu viel" an Lohnsteuer eingenommen.

Würde Rainer zusätzlich noch die aus der Einkommensteuer resultierende kalte Progression berücksichtigen, so wäre der ermittelte Wert größer als 2 Mrd Euro und käme damit der von uns publizierten Schätzung (2,23 Mrd €) sehr nahe. Anhand dieser Zahl lässt sich feststellen, inwieweit etwa im Rahmen einer Steuerreform die kalte Progression für ein bestimmtes Jahr kompensiert wird. Für das Jahr 2016 lässt sich sagen, dass die kalte Progression im Vergleich zum Zeitpunkt der letzten Steuerreform 2009 etwa 3,58 Mrd € betragen wird. Die Steuerentlastung von etwa 4,9 Mrd € wird die kalte Progression für das Jahr 2016 somit überkompensieren. Diese Darstellung verdeckt jedoch, dass auch in den Jahren 2010 - 2015 eine kalte Progression aufgetreten ist, die durch die Steuerreform keineswegs zur Gänze kompensiert wird.7

1

Rainer, Zur kalten Progression der letzten 5 Jahre, ÖStZ 2014/453.


2

Eckerstorfer/Sindermann, Anfragebeantwortung des Budgetdienstes, Anfrage des Abgeordneten Mag. Bruno Rossmann (Die Grünen) zur "Kalten Progression", http://www.parlament.gv.at/ZUSD/BUDGET/BD_-_Anfragebeantwortung_kalte_Progression.pdf (2015).


3

Eine breitere Definition der kalten Progression bezieht daher auch reale Einkommenszuwächse ein (vgl zB Bach, Abbau der kalten Progression: Nicht die einzige Herausforderung beim Einkommensteuertarif", DIW Wochenbericht Nr 12/2012 [Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Berlin]). Andererseits wird der Effekt der kalten Progression nach der obigen Definition überschätzt, wenn die Inflationsrate die nominellen Einkommenszuwächse übersteigt.


4

Steiner/Wakolbinger, Steuerreform 2015/16 und kalte Progression 2010/2019. Eine Mikrosimulationsanalyse für Österreich, WIFO-Monatsberichte 88/5 (2015) 431 - 437.


5

Rechnungshof, Bericht des Rechnungshofes über die durchschnittlichen Einkommen der gesamten Bevölkerung gemäß Art. 1 § 8 Abs. 4 des Bezügebegrenzungsgesetzes (Allgemeiner Einkommensbericht 2014), http://www.rechnungshof.gv.at/fileadmin/downloads/_jahre/2014/berichte/einkommensberichte/Einkommensbericht_2014.pdf (2014).


6

Rechnungshof, Einkommensbericht 2014.


7

Steiner/Wakolbinger, Steuerreform 2015/16 und kalte Progression 2010/2019. Eine Mikrosimulationsanalyse für Österreich, WIFO-Monatsberichte 88/5 (2015) 431 - 437.


Artikel-Nr.
ÖStZ digital exklusiv 2015/6

16.10.2015
Autor/in
Florian Wakolbinger
Dr. Florian Wakolbinger ist geschäftsführender Gesellschafter der Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung mbH Innsbruck und Lektor an der Universität Linz.
Viktor Steiner
Univ.-Prof. Dr. Viktor Steiner ist Professor für Empirische Wirtschaftsforschung und Wirtschaftspolitik an der Freien Universität Berlin.