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Arbeitsunfall auf Wegen im Wohnbereich – Änderung der Rsp

Bearbeiter: Bettina Sabara / Bearbeiter: Barbara Tuma

B-KUVG: § 90 Abs 1, § 91 Abs 1 Z 1

ASVG: § 175 Abs 1, § 176 Abs 1 Z 1

Befinden sich in einem Haus neben Räumen, die nur dem betrieblichen und nur dem persönlichen Bereich zuzuordnen sind, auch „gemischt genutzte“ Räume (wie Treppen), so zählten diese nach der bisherigen Rechtsprechung nur dann zu Betriebsräumlichkeiten, wenn sie im wesentlichen Umfang auch für betriebliche Zwecke genutzt wurden. Ein Sturz auf einer Treppe im Inneren eines Gebäudes stannd als Arbeitsunfall nur dann unter Unfallversicherungsschutz, wenn die Treppe überwiegend beruflich genutzt wurde.

Angesichts der kritischen Stellungnahmen in der Literatur, der neueren deutschen Rsp und der zunehmenden Bedeutung von Homeoffice, hält der OGH diese Rsp nicht aufrecht: Bei der Beurteilung, ob ein Arbeitsunfall vorliegt, ist vielmehr die entsprechende Handlungsintention/Handlungstendenz des Dienstnehmers entscheidend.

Im vorliegenden Fall ist im oberen Geschoß des Wohnhauses ein Raum als Büro eingerichtet, die Treppe wird aber nicht überwiegend zu betrieblichen Zwecken benutzt. Der Dienstnehmer lief die Treppe hinauf, weil im Büro das Telefon klingelte, und verletzte sich dabei. Die Fortbwegung über die Treppe war in diesem Fall ausschließlich von der objektivierten Handlungstendenz in Richtung einer dienstlichen Tätigkeit getragen. Der Unfall steht daher als Dienstunfall unter Unfallversicherungsschutz.

OGH 27. 4. 2021, 10 ObS 15/21k

Sachverhalt

Der Kläger ist als Lehrer und zusätzlich in der Personalvertretung als Fachausschussvorsitzender für AHS-Lehrer tätig. Zum Zeitpunkt des Unfalls unterrichtete er an einem Tag pro Woche an einem Gymnasium. Im Übrigen ist er wegen seiner Tätigkeit als Personalvertreter dienstfrei gestellt. In diesem Personalvertretungsbereich arbeitet er eigenverantwortlich und von zu Hause aus, sofern er keinen Außentermin hat. Eine „Homeoffice-Vereinbarung“ mit dem Dienstgeber gab und gibt es nicht.

Der Kläger wohnt in einem Reihenhaus mit drei Geschoßen, die durch eine halb gewendelte Holztreppe verbunden sind. Im ersten Stock befindet sich ua ein Büro, in dem der Kläger in der Regel auch arbeitet. Telefonate können auch im Wohnzimmer oder im Garten erfolgen.

Am 27. 6. 2019 hatte der Kläger einen Bürotag und arbeitete zu Hause. Für den Nachmittag war ein Beratungsgespräch mit einer Kollegin vereinbart. Überdies erwartete er einen dringenden dienstlichen Anruf eines Kollegen. Gegen 16:00 Uhr klingelte es an der Tür. Der Kläger verließ daher sein Büro, ging hinunter zur Haustür, öffnete diese und empfing seine Kollegin. Unmittelbar nach der Begrüßung klingelte das Telefon im Büro im ersten Stock. Der Kläger lief die Treppe hinauf, um das Gespräch entgegenzunehmen. Auf der obersten Stufe trat er mit dem linken Fuß ins Leere und verletzte sich.

Die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter lehnte die Anerkennung dieses Vorfalls als Dienstunfall sowie die Gewährung einer Versehrtenrente ab.

Hinweise:

Es ist unstrittig, dass auf den Unfall des Klägers (im Juni 2019) die Neuregelungen über Arbeits- oder Dienstunfälle im Homeoffice noch nicht anzuwenden sind (§ 175 Abs 1a und 1b ASVG sowie § 90 Abs 1a und 1b B-KUVG idF BGBl I 2020/23 und BGBl I 2021/61; Neuregelungen in Kraft seit 11. 3. 2020 bzw 1. 4. 2021).

Den Dienstunfällen gleichgestellt sind gem § 91 Abs 1 Z 1 B-KUVG Unfälle, die sich ua bei der Betätigung als Mitglied einer gesetzlichen Vertretung des Personals ereignen. Nahezu idente Regelungen finden sich in § 175 Abs 1 und § 176 Abs 1 Z 1 ASVG.

Entscheidung

Kritik an bisheriger Rsp und neue Homeoffice-Regelungen

Die bisherige Judikatur des OGH, die auf die überwiegende betriebliche oder berufliche Nutzung des Unfallorts innerhalb des Wohnhauses abstellt (vgl zB OGH 10. 10. 2001, 10 ObS 275/01s, ARD 5302/12/2002, oder OGH 13. 11. 2001, 10 ObS 359/01v, ARD 5355/24/2002), wurde in der Lehre kritisiert. Für R. Müller etwa ist entweder die Ausübung der beruflichen Tätigkeit oder die entsprechende Handlungsintention/Handlungstendenz des Dienstnehmers entscheidend; ereigne sich der Unfall bei einer privaten Tätigkeit, sei er auch dann nicht geschützt, wenn der Unfallort überwiegend beruflich genutzt werde (R. Müller in DRdA 2020, 311 [313 ff]; ders in Mosler/Müller/Pfeil, SV-Komm § 175 ASVG Rz 110)). Brodil (in ZAS 2019/3, 12 [13, 17]) löst das Problem der Zurechnung mittels der Theorie der wesentlichen Bedingung, dh wesentliche Bedingung für die Verletzung ist eine Ursache, die aus dem geschützten Bereich stammt und in einem inneren Sinnzusammenhang mit der geschützten Tätigkeit steht.

In Deutschland lehnt die neuere Rsp des BSG (siehe zB 5. 7. 2016, B 2 U 5/15 R [Rz 24 f]) die frühere Anknüpfung an die Häufigkeit der Nutzung des konkreten Unfallorts mittlerweile ab und stellt auch innerhalb der häuslichen Sphäre auf die objektivierte Handlungstendenz der versicherten Person ab.

Schon vor der Pandemie hat die Bedeutung von dienstlichen Tätigkeiten zugenommen, die außerhalb des klassischen „fixen“ Arbeitsplatzes vorwiegend mittels (mobiler) elektronischer Kommunikation bzw „Teleworking“ erfolgen. Der österreichische Gesetzgeber hat dem Rechnung getragen, indem er mit BGBl I 2021/62 in § 175 Abs 1 Z 1a und 1b ASVG im Unfallversicherungsrecht den Aufenthaltsort der versicherten Person (Homeoffice) als Arbeitsstätte und Unfälle im zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Beschäftigung im Homeoffice als Arbeitsunfälle iSd Generalklausel des § 175 Abs 1 ASVG qualifizierte.

Nach der Legaldefinition des § 2h Abs 1 AVRAG idF BGBl I 2021/62 liegt Arbeit im Homeoffice vor, wenn der Arbeitnehmer „regelmäßig Arbeitsleistungen in der Wohnung erbringt“. Diese Regelungen zum Homeoffice sind nicht mehr als zeitlich beschränkte reine Krisenmaßnahme für die Dauer der COVID-19-Maßnahmen konzipiert, sondern in das Dauerrecht übernommen worden.

UV-Schutz gegeben

Angesichts der kritischen Stellungnahmen in der Literatur, der neueren deutschen Rsp und der zunehmenden Bedeutung von Homeoffice ist das Abstellen auf ein Überwiegen der betrieblichen Nutzung des konkreten Unfallorts, wie sie in der bisherigen Rsp des OGH großteils vertreten wurde, nicht aufrecht zu erhalten.

Im vorliegenden Fall wurde die Innentreppe des Wohngebäudes zwar nicht überwiegend zu betrieblichen Zwecken benutzt, die Fortbewegung des Klägers über diese Treppe diente jedoch keinem privatwirtschaftlichen Zweck wie beispielsweise iZm einer Mittags- oder Kaffeepause. Sie war ausschließlich von der objektivierten Handlungstendenz in Richtung einer dienstlichen Tätigkeit getragen. Der Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis iSd § 90 Abs 1 B-KUVG und der Unfallversicherungsschutz nach dieser Bestimmung sind zu bejahen. Der Unfall vom 27. 6. 2019 war ein Dienstunfall nach § 90 Abs 1 B-KUVG.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 31263 vom 29.07.2021