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Dauerhafte Invalidität - Beweismaß

Bearbeiter: Manfred Lindmayr

ASVG: § 254 Abs 1 Z 1, § 271 Abs 1 Z 1

Mit dem SRÄG 2012 wurde als Voraussetzung für die Berufsunfähigkeitspension (Invaliditätspension) normiert, dass die Berufsunfähigkeit (Invalidität) „auf Grund des körperlichen oder geistigen Zustandes voraussichtlich dauerhaft vorliegt“. Dies ist dann der Fall, wenn eine Besserung des Gesundheitszustands des Versicherten nicht zu erwarten ist. Der Versicherte muss daher nicht beweisen, dass eine Besserung des Gesundheitszustands (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) ausgeschlossen ist, sondern nur, dass sie nicht sehr wahrscheinlich ist, damit feststeht, dass die Berufsunfähigkeit (Invalidität) „voraussichtlich dauerhaft“ vorliegt.

Die Rechtsprechung zu § 256 Abs 2 ASVG (außer Kraft getreten mit 31. 12.2013) ist zur Auslegung des § 271 Abs 1 Z 1 ASVG (§ 254 Abs 1 Z 1 ASVG) nicht heranzuziehen.

OGH 30. 7. 2015, 10 ObS 40/15b (idF des Berichtigungsbeschlusses vom 2. 9. 2015)

Sachverhalt

Die beklagte Pensionsversicherungsanstalt lehnte den Antrag des 1975 geborenen Klägers auf Weitergewährung der mit 28. 2. 2014 befristeten Berufsunfähigkeitspension ab. Zugleich wurde ausgesprochen, dass weiterhin vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliege und Anspruch auf Rehabilitationsgeld bestehe.

Der Kläger ist aufgrund einer psychischen Erkrankung derzeit arbeitsunfähig, die Krankheit ist sowohl medikamentös als auch durch andere Therapien „austherapiert“. Zu hoffen ist lediglich auf eine spontane Verbesserung der Krankheitssituation, deren Eintritt zwar sehr unwahrscheinlich ist, aber nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Klammert man jedoch diese nicht absehbaren Spontanverläufe aus, so muss unter Berücksichtigung nur der therapeutischen Behandlungsmaßnahmen mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Verbesserung des Leistungskalküls ausgeschlossen werden.

Die Vorinstanzen gaben dem Klagebegehren statt und verpflichteten die beklagte PVA zur (unbefristeten) Weitergewährung der Berufsunfähigkeitspension an den Kläger. Die Hoffnung auf eine spontane Verbesserung der Krankheitssituation stehe einer Beurteilung der Berufsunfähigkeit als „voraussichtlich dauerhaft“ nicht entgegen.

Der OGH hat die Revision zugelassen, weil zur Auslegung der durch das SRÄG 2012 geschaffenen Voraussetzungen der „voraussichtlich dauerhaft“ vorliegenden Invalidität bzw Berufsunfähigkeit noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliegt.

Rechtsprechung zur alten Rechtslage

Nach § 256 Abs 1 ASVG idF StrukturanpassungsG 1996 (iVm § 271 Abs 3, § 277 Abs 2 ASVG) ist vorgesehen, dass eine Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit längstens für die Dauer von 24 Monaten gebührt und für längstens 24 Monate weiter zu gewähren ist, wenn die geminderte Arbeitsfähigkeit nach Ablauf der Befristung weiterbesteht. Ohne zeitliche Befristung ist die Pension aber zuzuerkennen, wenn „auf Grund des körperlichen oder geistigen Zustands dauernde Invalidität (Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit) anzunehmen ist“ (§ 256 Abs 2 ASVG).

Die Materialien (ErläutRV 72 BlgNR 20. GP 248) halten dazu fest, dass sinnvollerweise vom Grundsatz der Befristung abgesehen werden müsse, wenn auch unter Bedachtnahme auf die Weiterentwicklung der medizinischen Behandlungsmethoden infolge des körperlichen oder geistigen Zustands des Versicherten dauernde Invalidität (Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit) anzunehmen sei. Zugleich gab der Gesetzgeber die Unterscheidung von dauernder und vorübergehender Invalidität (Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit) bei den Anspruchsvoraussetzungen auf.

Nach der Rechtsprechung des OGH zu dieser Bestimmung ist dauernde geminderte Arbeitsfähigkeit nicht anzunehmen, wenn - auch nur geringe - Chancen auf Besserung des Gesundheitszustands bestehen (vgl OGH 22. 5. 2001, 10 ObS 130/01t, ARD 5295/17/2002). Diese Rechtsprechung stützt sich auf den vom Gesetzgeber verfolgten Zweck der Novellierung des § 256 ASVG, die grundsätzliche Befristung von Pensionen aus den Versicherungsfällen der geminderten Arbeitsfähigkeit zu verankern. Für den vom Versicherten zu erbringenden Beweis des Vorliegens dauernder Invalidität verlangt die Rechtsprechung des OGH, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die Arbeitsfähigkeit des Versicherten nicht wiederhergestellt werden kann (vgl OGH 22. 10. 2013, 10 ObS 151/13y, ARD 6386/15/2014). Dauernde geminderte Arbeitsfähigkeit wurde aber trotz Besserungsfähigkeit des Gesundheitszustands bejaht, wenn die dazu erforderlichen Maßnahmen dem Versicherten unzumutbar sind (vgl OGH 16. 4. 2013, 10 ObS 8/13v, ARD 6331/8/2013).

§ 256 ASVG ist mit Ablauf des 31. 12. 2013 außer Kraft getreten (§ 669 Abs 2 ASVG) und auf den 1975 geborenen Kläger nicht mehr anzuwenden (vgl § 669 Abs 5 und Abs 6 ASVG).

Beweismaß für Versicherten gesenkt

Versicherten, die das 50. Lebensjahr nicht vor dem 1. 1. 2014 vollendet haben (§ 669 Abs 5 ASVG idF BGBl I 2015/2), gebührt nach der Rechtslage seit dem SRÄG 2012, BGBl I 2013/3, anstelle einer befristeten Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit grundsätzlich - als Leistung der Krankenversicherung - das Rehabilitationsgeld (§ 143a ASVG), wenn die Anspruchsvoraussetzungen für diese Leistung vorliegen und nicht Umschulungsgeld in Verbindung mit beruflichen Maßnahmen der Rehabilitation gebührt. Eine Voraussetzung für den Anspruch auf Rehabilitationsgeld ist, dass vorübergehende geminderte Arbeitsfähigkeit im Ausmaß von zumindest 6 Monaten vorliegt (§ 255b, § 273b ASVG idF BGBl I 2015/2, rückwirkend mit 1. 1. 2014 in Kraft getreten).

Nach § 271 Abs 1 Z 1 ASVG in der im vorliegenden Fall anzuwendenden Fassung des SRÄG 2012 ist eine Voraussetzung für die Berufsunfähigkeitspension, dass die Berufsunfähigkeit (§ 273 ASVG) „auf Grund des körperlichen oder geistigen Zustandes voraussichtlich dauerhaft vorliegt“. Dies ist nach den ErläutRV 2000 BlgNR 24. GP 24 dann der Fall, wenn „eine Besserung des Gesundheitszustands des Versicherten nicht zu erwarten ist“.

Der Gesetzgeber unterscheidet demnach (wieder) zwischen vorübergehender und dauerhafter (dauernder) geminderter Arbeitsfähigkeit bei den Anspruchsvoraussetzungen und ist vom Konzept der grundsätzlichen Befristung von Leistungen wegen geminderter Arbeitsfähigkeit abgegangen.

Nach dem Wortlaut des § 271 Abs 1 Z 1 ASVG muss die Berufsunfähigkeit nicht dauerhaft, sondern nur voraussichtlich dauerhaft, also nicht mit Gewissheit, sondern nur wahrscheinlich vorliegen. Aus den Gesetzesmaterialien des SRÄG 2012 erhellt, dass die bloß mögliche Besserung des Zustands nicht mehr genügt, um das Vorliegen dauerhaft geminderter Arbeitsfähigkeit verneinen zu können. Die Besserung des Gesundheitszustands des Versicherten zu erwarten, bedeutet nämlich, mit ihr zu rechnen, sie für sehr wahrscheinlich zu halten. Was nur möglich ist, ist noch nicht wahrscheinlich. Entgegen der Ansicht der PVA ist die zu § 256 Abs 2 ASVG ergangene Rechtsprechung nicht zur Auslegung des § 271 Abs 1 Z 1 ASVG (und der Parallelbestimmung des § 254 Abs 1 Z 1 ASVG) heranzuziehen.

Der Versicherte muss demnach nicht beweisen, dass eine Besserung des Gesundheitszustands (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) ausgeschlossen ist (eine Besserung unmöglich oder an Gewissheit grenzend unwahrscheinlich ist), sondern nur, dass sie nicht sehr wahrscheinlich ist, damit feststeht, dass Berufsunfähigkeit (Invalidität) „voraussichtlich dauerhaft“ vorliegt.

Dieser Beweis ist dem Kläger hier gelungen. Es steht zwar fest, dass eine Besserung des Gesundheitszustands (durch Spontanereignisse im Laufe der Jahre) eintreten könnte, der Eintritt eines solchen Ereignisses ist aber „nicht absehbar“. Dass der Kläger die übrigen Voraussetzungen für die begehrte Leistung erfüllt, ist unstrittig.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 20390 vom 14.10.2015