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Entsendete/überlassene Ausländer – neue Strafsanktion in allen anhängigen Verfahren

Bearbeiter: Bettina Sabara / Bearbeiter: Barbara Tuma

LSD-BG: § 29 Abs 1, § 72 Abs 10

In mehreren Vorabentscheidungsverfahren zum AVRAG kam der EuGH (ua) zur Ansicht, dass im Falle der Nichtbereithaltung bzw -stellung von Lohnunterlagen bei Entsendung oder Überlassung von Arbeitnehmern nach Österreich nur mehr eine einzige Geldstrafe ohne Mindeststrafe bis zum gesetzlich vorgesehenen Höchstmaß verhängt werden darf, auch wenn es um die Lohnunterlagen mehrerer Arbeitnehmer geht, und die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe unzulässig ist (vgl EuGH 12. 11. 2019, C-64/18 ua, Maksimovic ua, ARD 6667/5/2019). Nach Aufhebung der einschlägigen Bestimmungen zur Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping im AVRAG und Neuregelung in einem eigenen Gesetz, dem Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz (LSD-BG; in Kraft seit 1. 1. 2017) wurde diese Rsp vom EuGH auch auf das LSD-BG übertragen (EuGH 19. 12. 2019, C-645/18, NE; EuGH 19. 12. 2019, C-140/19 ua, EX).

In der Folge wurden die Strafbestimmungen der §§ 26 bis 28 und § 29 Abs 1 LSD-BG durch die Novelle BGBl I 2021/174 mit Wirksamkeit ab 1. 9. 2021 geändert; erklärte Absicht des Gesetzgebers war es dabei nach den Gesetzesmaterialien, im Hinblick auf das Urteil des EuGH in den Rs C-64/18 ua, Maksimovic ua, die Vereinbarkeit der Strafsanktionsnormen für die sog Formaldelikte des Lohn- und Sozialdumpings mit dem Unionsrecht sicherzustellen und die Unterentlohnung nach denselben Grundsätzen zu bestrafen. Die entsprechenden Strafnormen des AVRAG wurden in der Novelle BGBl I 2021/174 jedoch nicht geändert, wodurch sich eine echte (planwidrige) Lücke ergibt, die durch Analogie zu schließen ist, sofern die Tathandlung nach im Wesentlichen unveränderten Tatbildern zu beurteilen ist.

Im Hinblick auf den Straftatbestand der Unterentlohnung (hier: im Hinblick auf den Tatzeitpunkt im Jahr 2016 § 7i Abs 5 AVRAG idF vor der Novelle BGBl I 2016/44) ist die Lücke dahingehend zu schließen, dass unabhängig von der Anzahl der betroffenen Arbeitnehmer eine einzige Übertretung vorliegt, für die – ohne Anwendung einer Mindeststrafe – eine einzige Strafe zu verhängen ist. Dadurch wird sichergestellt, dass auch bei Tathandlungen vor dem 1. 1. 2017 (also vor Inkrafttreten des LSD-BG) die Strafsanktion zur Anwendung gelangt, die für den Betroffenen günstiger ist.

VwGH 12. 10. 2021, Ra 2019/11/0015 und Ra 2019/11/0016

Entscheidung

Keine Änderung des AVRAG – echte Lücke

Die Strafbestimmungen des AVRAG, die in den Revisionsfällen weiterhin zur Anwendung gelangen (vgl § 19 Abs 1 Z 38 AVRAG), wurden durch die Novelle BGBl I 174/2021 nicht ausdrücklich geändert (vgl Art 3 dieser Novelle). Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob das Fehlen einer vergleichbaren textlichen Änderung der Strafbestimmungen des AVRAG durch die Novelle BGBl I 174/2021 eine echte (planwidrige) Lücke darstellt, die durch Analogie zu schließen ist. Die grundsätzliche Zulässigkeit der Analogie auch im öffentlichen Recht hat der VwGH in seiner Rsp wiederholt anerkannt, sofern eine echte (dh planwidrige) Rechtslücke besteht.

In den Revisionsfällen ist zunächst zu beachten, dass das Urteil des EuGH in den Rs C-64/18 ua, Maksimovic ua, zur Rechtslage nach dem AVRAG (und nicht nach dem LSD-BG) ergangen ist. Angesichts der deklarierten Zielsetzung der Novelle BGBl I 2021/174 war, die Strafen für die sog Formaldelikte bei Lohn- und Sozialdumping im Hinblick auf eben dieses Urteil unionsrechtskonform auszugestalten und die Sanktionierung der Unterentlohnung nach denselben Grundsätzen vorzunehmen, kann es nicht die Absicht des Gesetzgebers gewesen sein, von den Änderungen der Strafnormen durch die Novelle BGBl I 2021/174 ausgerechnet jene Verwaltungsstrafverfahren wegen Lohn- und Sozialdumpings auszusparen, die wegen des Tatzeitpunkts noch nach den Regelungen des AVRAG zu führen sind.

Die gegenteilige Auffassung würde zu einem nicht zu rechtfertigenden Wertungswiderspruch in Bezug auf die Bestrafung von Tathandlungen führen, die ihrer Art nach dieselben und, wie im Fall der Unterentlohnung, nach im Wesentlichen unveränderten Tatbildern zu beurteilen sind.

Der VwGH geht daher davon aus, dass die Nichtaufnahme einer Änderung der die Unterentlohnung sanktionierenden Strafnorm des § 7i Abs 5 AVRAG in der Novelle BGBl I 2021/174 eine durch Analogie zu schließende echte (planwidrige) Lücke bewirkt hat, die durch Analogie zu schließen ist.

Anmerkung: In der E VwGH 12. 10. 2021, Ra 2021/11/0033, hat der VwGH klargestellt, dass § 29 Abs 1 LSD-BG idF BGBl I 2021/174 auch auf bereits anhängige Verfahren nach dem LSD-BG anzuwenden ist, also auch wenn sich das anhängige Verfahren auf einen Sachverhalt bezieht, auf den noch § 29 Abs 1 LSD-BG idF BGBl I 2016/44 anzuwenden war.

Auf die dort aufgeworfene Frage, ob das Urteil des EuGH in den Rs C-64/18 ua, Maksimovic ua, auch für das Delikt der Unterentlohnung einschlägig ist, kommt es nach Ansicht des VwGH dabei ebensowenig an wie auf die Frage der Unionsrechtskonformität der Strafnorm des § 29 Abs 1 LSD-BG idF BGBl I 2016/44.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 31967 vom 17.01.2022