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*Ergebnis einer Umfrage unter 225 Steuerberater:innen und Rechtsanwält:innen (Mai 2024) durchgeführt von IPSOS im Auftrag von LexisNexis Österreich.
RL 96/71/EWG: Art 1 Abs 3 Buchstabe c
Anhang X der Beitrittsakte von 2003: Kap 1 Nr 2 und Nr 13
1. Die Republik Österreich war nach der Beitrittsakte von 2003 berechtigt, die Arbeitskräfteüberlassung betr ungarische Arbeitnehmer in ihrem Hoheitsgebiet einzuschränken, auch wenn diese Überlassung keinen empfindlichen Sektor iSv Kapitel 1 Nr 13 des Anhangs X der Beitrittsakte betreffen sollte.
2. Für die Feststellung, ob ein Vertragsverhältnis als Arbeitskräfteüberlassung einzustufen ist oder als Erbringung einer Dienstleistung in Österreich unter Verwendung (Entsendung) von Arbeitnehmern, ist va jeder Anhaltspunkt dafür zu berücksichtigen, ob der Wechsel des Arbeitnehmers in den Aufnahmemitgliedstaat den eigentlichen Gegenstand der Dienstleistung darstellt. Gegen diese Annahme spricht, wenn der Dienstleistungserbringer die Folgen einer nicht vertragsgemäßen Ausführung der vertraglich vereinbarten Leistung trägt und wenn er die Zahl der Arbeitnehmer bestimmen kann, deren Entsendung er für sachgerecht hält. Hingegen erlaubt der Umstand, dass der Auftraggeber kontrolliert, ob die Leistung vertragsgemäß ist, oder allgemeine Anweisungen an die Arbeitnehmer des Dienstleistungserbringers erteilen kann, als solcher noch nicht die Schlussfolgerung, dass eine Überlassung von Arbeitskräften vorliegt.
EuGH 18. 6. 2015, C-586/13, Martin Meat
Sachverhalt
Im Jahr 2007 schloss die österreichische Alpenrind GmbH, ein auf die Zerlegung von Fleisch und die Vermarktung von verarbeitetem Fleisch spezialisiertes Unternehmen, mit der in Ungarn ansässigen Gesellschaft Martin Meat kft einen Vertrag, wonach Martin Meat pro Woche 25 Rinderhälften verarbeiten und verkaufsfertig verpacken sollte. Die Verarbeitungs- und die Verpackungstätigkeiten fanden in den in Salzburg gelegenen Räumlichkeiten des Schlachthofs von Alpenrind statt. Diese Räumlichkeiten und die für die genannten Tätigkeiten erforderlichen Maschinen wurden von Martin Meat gemietet.
Die Tätigkeiten wurden durch die ungarischen Arbeitnehmer von Martin Meat ausgeführt. Der Vorarbeiter von Alpenrind erteilte dem Vorarbeiter von Martin Meat Weisungen hinsichtlich der zu verarbeitenden Rinderhälften und der Art und Weise der Verarbeitung. Anschließend organisierte der Vorarbeiter von Martin Meat die Arbeit der ungarischen Arbeitnehmer, denen er Weisungen erteilte. Alpenrind kontrollierte die Qualität der geleisteten Arbeit. Die Vergütung für die von Martin Meat erbrachten Dienstleistungen berechnete sich nach der Menge des verarbeiteten Fleischs und wurde herabgesetzt, wenn die Qualität des verarbeiteten Fleischs unzureichend war.
Die österreichischen Behörden stuften die Tätigkeit nicht als Entsendung ein, sondern als Arbeitskräfteüberlassung, für die gemäß den Übergangsbestimmungen der Beitrittsakte von 2003 bzw gemäß § 32a Abs 6 AuslBG Beschäftigungsbewilligung erforderlich gewesen wären. Martin Meat wurde daher zur Zahlung einer Geldbuße von mehr als € 700.000,- verpflichtet.
Martin Meat klagte daraufhin ihre Rechtsberater (die beklagten Parteien im Ausgangsverfahren) auf Schadenersatz, weil diese vor Vertragsabschluss mitgeteilt hatten, dass für den Einsatz der ungarischen Arbeitnehmern in dem österreichischen Schlachthof keine Beschäftigungsbewilligungen erforderlich seien, weil die Tätigkeit nicht in die durch die Beitrittsakte von 2003 als empfindlich eingestuften Dienstleistungssektoren falle und die in Aussicht genommene Vertragsbeziehung keine Arbeitnehmerüberlassung beinhalte. Dazu legte das ungarische Gericht dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vor.
Rechtsgrundlagen
Kapitel 1 Nr 2 des Anhangs X der Beitrittsakte von 2003 sieht insoweit eine Ausnahme von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer vor, als die Anwendbarkeit der Art 1 bis 6 der VO (EWG) 1612/68 auf ungarische Staatsangehörige übergangsweise ausgesetzt wird. Danach dürfen die Mitgliedstaaten in einem Zeitraum von maximal 5 Jahren nach dem EU-Beitritt Ungarns nationale oder sich aus bilateralen Abkommen ergebende Maßnahmen anwenden, um den Zugang ungarischer Staatsangehöriger zu ihren Arbeitsmärkten zu regeln.
Kapitel 1 Nr 13 des Anhangs X der Beitrittsakte von 2003 wiederum sieht eine Ausnahme von der Dienstleistungsfreiheit vor, sofern die Erbringung der Dienstleistung mit einer vorübergehenden Entsendung von Arbeitskräften verbunden ist. Diese Vorschrift gilt nur für Deutschland und Österreich und ist das Ergebnis von Verhandlungen, die Deutschland und Österreich geführt haben, um eine Übergangsregelung für sämtliche von Art 1 Abs 3 RL 96/71/EWG erfassten Dienstleistungen vorzusehen. In Kapitel 1 Nr 13 des Anhangs X der Beitrittsakte von 2003 werden die empfindlichen Sektoren aufgeführt, bei denen diese beiden Mitgliedstaaten das Recht haben, die Dienstleistungsfreiheit in Bezug auf Dienstleistungen zu beschränken, die mit vorübergehender Entsendung von Arbeitskräften erbracht werden. Die Überlassung von Arbeitskräften iSv Art 1 Abs 3 Buchst c RL 96/71/EWG stellt eine solche Dienstleistung dar.
Beschränkung der Überlassung zulässig
Eingangs verweist der EuGH auf sein Urteil EuGH 10. 2. 2011, C-307/09 bis C-309/09, Vicoplus ua, ARD 6122/12/2011, worin er bereits in Bezug auf Maßnahmen der Niederlande hinsichtlich polnischer Arbeitnehmer (Erfordernis einer Beschäftigungserlaubnis für die Überlassung der Arbeitskräfte) entschieden hat, dass das Recht zur Beschränkung der Überlassung von Arbeitnehmern iSv Art 1 Abs 3 Buchst c RL 96/71/EWG nicht Deutschland und Österreich vorbehalten war, sondern sich auf alle anderen Staaten erstreckte, die zum Zeitpunkt des Beitritts der Republik Polen bereits EU-Mitglieder waren.
Die Ausführungen im Urteil Vicoplus ua gelten entsprechend für die Republik Ungarn. Folglich sind die Staaten, die zum Zeitpunkt des Beitritts Ungarns bereits EU-Mitglieder waren, berechtigt, die Überlassung von Arbeitskräften iSv Art 1 Abs 3 Buchst c RL 96/71/EWG nach Kapitel 1 Nr 2 des Anhangs X der Beitrittsakte von 2003 zu beschränken.
Darauf aufbauend stellt der EuGH weiters klar, dass der Umstand, dass Deutschland und Österreich eine spezielle Ausnahme betr bestimmte empfindliche Sektoren ausgehandelt haben (Kapitel 1 Nr 13 des Anhangs X der Beitrittsakte von 2003), ihnen nicht das Recht nimmt, die Überlassung von Arbeitskräften gemäß Kapitel 1 Nr 2 des Anhangs X der Beitrittsakte von 2003 zu beschränken, das im Gegensatz zu Kapitel 1 Nr 13 des Anhangs X nicht auf bestimmte empfindliche Sektoren beschränkt ist.
Diese Schlussfolgerung steht im Einklang mit der Zielsetzung von Kapitel 1 Nr 2 des Anhangs X der Beitrittsakte von 2003, mit dem verhindert werden soll, dass nach dem Beitritt neuer Mitgliedstaaten in den alten Mitgliedstaaten infolge einer sofortigen beträchtlichen Zuwanderung von Arbeitnehmern Störungen auf dem Arbeitsmarkt auftreten. Zudem kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Ausnahme, die Deutschland und Österreich ausgehandelt haben, ihnen weniger Handlungsspielraum zur Regelung des Zustroms ungarischer Arbeitnehmer zu ihrem Hoheitsgebiet belässt als den Mitgliedstaaten, die keine derartige Ausnahme ausgehandelt haben.
Indizien für Arbeitskräfteüberlassung
Im Anschluss geht der EuGH auf die zweite Vorlagefrage ein, auf welche Gesichtspunkte bei einem Vertragsverhältnis wie im Ausgangsverfahren für die Beurteilung abzustellen ist, ob dieses Vertragsverhältnis als Arbeitskräfteüberlassung iSv Art 1 Abs 3 Buchst c RL 96/71/EWG einzustufen ist.
Aus dem Urteil EuGH 10. 2. 2011, C-307/09 bis C-309/09, Vicoplus ua, ARD 6122/12/2011, ergibt sich, dass eine Arbeitskräfteüberlassung iSd Art 1 Abs 3 Buchst c RL 96/71/EWG vorliegt, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind:
- | Es muss sich bei der Überlassung von Arbeitskräften um eine gegen Entgelt erbrachte Dienstleistung handeln, bei der der entsandte Arbeitnehmer im Dienst des die Dienstleistung erbringenden Unternehmens bleibt, ohne dass ein Arbeitsvertrag mit dem verwendenden Unternehmen geschlossen wird. |
- | Das wesentliche Merkmal dieser Überlassung muss darin bestehen, dass der Wechsel des Arbeitnehmers in den Aufnahmemitgliedstaat der eigentliche Gegenstand der Dienstleistung des erbringenden Unternehmens ist. |
- | Und der Arbeitnehmer muss im Rahmen einer solchen Überlassung seine Aufgaben unter der Aufsicht und Leitung des verwendenden Unternehmens wahrnehmen. |
Abgrenzung Dienstleistung - Personalgestellung
Bei Prüfung der zweiten Voraussetzung ist eine Analyse des eigentlichen Gegenstands der Dienstleistung des erbringenden Unternehmens erforderlich und es ist jeder Anhaltspunkt dafür zu berücksichtigen, ob der Wechsel des Arbeitnehmers in den Aufnahmemitgliedstaat den Gegenstand der betreffenden Dienstleistung darstellt oder nicht. Hierbei ist zu beachten, dass ein Dienstleistungserbringer grundsätzlich eine Leistung erbringen muss, die mit den Vorgaben des Vertrags übereinstimmt, so dass die Folgen der Erbringung einer nicht vertragsgemäßen Leistung von dem Dienstleistungserbringer getragen werden müssen. Demzufolge ist insbesondere jeder Anhaltspunkt dafür zu berücksichtigen, dass der Dienstleistungserbringer nicht die Folgen einer nicht vertragsgemäßen Ausführung der vertraglich festgelegten Leistung trägt. Ergibt sich daher aus dem Vertrag, dass der Dienstleistungserbringer verpflichtet ist, die vertraglich vereinbarte Leistung ordnungsgemäß auszuführen, ist es grundsätzlich weniger wahrscheinlich, dass es sich um eine Arbeitskräfteüberlassung handelt, als wenn er die Folgen der nicht vertragsgemäßen Ausführung dieser Leistung nicht zu tragen hat.
Im vorliegenden Fall ist es Sache des nationalen Gerichts, den Umfang der jeweiligen Pflichten der Vertragsparteien zu prüfen, um festzustellen, welche Partei die Folgen der nicht vertragsgemäßen Ausführung dieser Leistung zu tragen hat. Der Umstand, dass die Vergütung des Dienstleistungserbringers nicht nur von der Menge des verarbeiteten Fleisches, sondern auch von dessen Qualität abhängt, deutet darauf hin, dass der Dienstleistungserbringer zur ordnungsgemäßen Ausführung dieser Leistung verpflichtet ist.
Auch der Umstand, dass es dem Dienstleistungserbringer freisteht, die Zahl der Arbeitnehmer zu bestimmen, deren Entsendung in den Aufnahmemitgliedstaat er für sachgerecht hält - was im Ausgangsverfahren der Fall zu sein scheint -, kann dafür sprechen, dass der Gegenstand der betreffenden Leistung nicht der Wechsel des Arbeitnehmers in den Aufnahmemitgliedstaat ist, sondern dieser Wechsel mit der Erfüllung der vertraglich vereinbarten Leistung einhergeht, und dass es sich somit um eine Entsendung von Arbeitnehmern iSv Art 1 Abs 3 Buchst a RL 96/71/EWG handelt.
Keinen sachgerechten Hinweis liefert im Ausgangsverfahren hingegen der Umstand, dass der Dienstleistungserbringer nur einen einzigen Kunden im Aufnahmemitgliedstaat hat und dass er die Räumlichkeiten, in denen die Dienstleistung erbracht wird, und die Maschinen mietet.
Was die dritte Voraussetzung angeht (Wahrnehmung der Aufgaben durch die Arbeitnehmer unter der Aufsicht und Leitung des verwendenden Unternehmens), so ist zwischen der Beaufsichtigung und Leitung der Arbeitnehmer selbst und der vom Kunden durchgeführten Überprüfung der ordnungsgemäßen Erfüllung eines Dienstleistungsvertrags zu unterscheiden. Bei der Erbringung von Dienstleistungen ist es nämlich üblich, dass der Kunde überprüft, ob die Dienstleistung vertragsgemäß erbracht wird. Zudem kann der Kunde bei der Erbringung von Dienstleistungen den Arbeitnehmern des Dienstleistungserbringers bestimmte allgemeine Anweisungen erteilen, ohne dass damit in Bezug auf diese Arbeitnehmer die Ausübung einer Leitungs- und Aufsichtsbefugnis verbunden ist, sofern der Dienstleistungserbringer seinen Arbeitnehmern die genauen und individuellen Weisungen erteilt, die er für die Ausführung der betreffenden Dienstleistungen für erforderlich hält.