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EuGH: „Betrieb“ bei Massenentlassungen bezieht sich auf Einheiten

Bearbeiter: Bettina Sabara

RL 98/59 EG: Art 1 Abs 1

Die RL 98/59/EG (MassenentlassungsRL) sieht im Fall der geplanten Auflösung von mindestens 20 Beschäftigungsverhältnissen innerhalb von 90 Tagen vor, dass der Arbeitgeber rechtzeitig die Arbeitnehmervertreter zu konsultieren hat, um zu einer Einigung zu gelangen. Dies gilt unabhängig davon, wie viele Arbeitnehmer idR in dem betreffenden Betrieb beschäftigt sind; besteht ein Unternehmen aus mehreren Einheiten, ist der Begriff „Betrieb“ in der MassenentlassungsRL dahin auszulegen, dass er sich auf die Einheit bezieht, der die betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgaben zugewiesen sind, und nicht auf die Gesamtzahl aller Betriebe eines Arbeitgebers.

Wurden - so im vorliegenden Fall - Entlassungen bei zwei Einzelhandelsketten vorgenommen, die ihre Tätigkeit mittels Ladengeschäften, in denen meist weniger als 20 Arbeitnehmer beschäftigt waren, an verschiedenen Orten im gesamten Gebiet des Mitgliedstaats ausübten, so sind die jeweiligen Geschäfte, denen die von den Entlassungen betroffenen Arbeitnehmer zugewiesen waren, als gesonderte „Betriebe“ anzusehen.

EuGH 30. 4. 2015, C-80/14, USDAW und Wilson

Entscheidung

Der EuGH stellt zunächst fest, dass der in der RL 98/59/EG nicht definierte Begriff „Betrieb“ ein unionsrechtlicher Begriff ist und dass sein Inhalt nicht anhand der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestimmt werden könne. Er ist daher in der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich auszulegen. Bestehe ein Unternehmen aus mehreren Einheiten, so werde der „Betrieb“ iSv Art 1 Abs 1 Unterabschnitt 1 Buchst a der RL 98/59/EG von der Einheit gebildet, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgabe angehören.

Weiters würde - so der EuGH - die Auslegung, wonach die Gesamtzahl der in allen Betrieben eines Unternehmens vorgenommenen Entlassungen zu berücksichtigen sei, zwar die Zahl der Arbeitnehmer, die in den Genuss des Schutzes der RL 98/59/EG gelangen könnten, erheblich erhöhen, was einem ihrer Ziele entspräche. Eine Auslegung des Begriffs „Betrieb“ in diesem Sinne würde aber zum einen dem weiteren Ziel der RL zuwiderlaufen, einen vergleichbaren Schutz der Rechte der Arbeitnehmer in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten, und zum anderen zu sehr unterschiedlichen Belastungen für die Unternehmen führen, die - je nach der Wahl des betreffenden Mitgliedstaats - den Informations- und Konsultationspflichten nach den Art 2 bis 4 der Richtlinie nachzukommen hätten, was auch dem vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziel zuwiderliefe, für ein vergleichbares Gewicht der Belastungen in allen Mitgliedstaaten zu sorgen. Bei dieser Auslegung fiele nicht nur eine von einer Massenentlassung betroffene Gruppe von Arbeitnehmern in den Anwendungsbereich der RL 98/59/EG, sondern unter Umständen auch ein einziger Arbeitnehmer eines Betriebs, was dem üblichen Sinne des Begriffs „Massenentlassung“ widerspräche.

Der EuGH weist jedoch darauf hin, dass die RL 98/59/EG ein Mindestmaß an Schutz in Bezug auf die Information und die Konsultation von Arbeitnehmern im Fall von Massenentlassungen schaffe und dass die Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art 5 RL 98/59/EG die Möglichkeit hätten, für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zu erlassen oder für die Arbeitnehmer günstigere tarifvertragliche Vereinbarungen zuzulassen. Aber auch in diesem Fall seien die Mitgliedstaaten an die autonome und einheitliche Auslegung des unionsrechtlichen Begriffs „Betrieb“ gebunden.

Aus all dem folge, dass die Definition in Art 1 Abs 1 Unterabschnitt 1 Buchst a Ziff i und Buchst a Ziff ii der Richtlinie 98/59 es erfordert, die Entlassungen in jedem Betrieb für sich genommen zu berücksichtigen.

Im vorliegenden Fall, in dem Entlassungen bei zwei Einzelhandelsketten vorgenommen wurden, die ihre Tätigkeit mittels Ladengeschäften, in denen meist weniger als 20 Arbeitnehmer beschäftigt waren, an verschiedenen Orten im gesamten Gebiet des Mitgliedstaats ausübten, ergibt sich, dass die Geschäfte, denen die von den Entlassungen betroffenen Arbeitnehmer zugewiesen waren, als gesonderte „Betriebe“ anzusehen sind. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies angesichts der konkreten Umstände des Ausgangsverfahrens nach der Rechtsprechung des EuGH (EuGH 7. 12. 1995, C-449/93, Rockfon, ARD 4725/2/96); EuGH 15. 2. 2007, C-270/05, Athinaïki Chartopoiïa) zutrifft.

Der EuGH hat für Recht erkannt:

1. Der Begriff „Betrieb“ in Art 1 Abs 1 Unterabs 1 Buchst a Ziff ii der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen ist ebenso auszulegen wie in Buchst a Ziff i dieses Unterabsatzes.

2. Art 1 Abs 1 Unterabschnitt 1 Buchst a Ziff ii der RL 98/59/EG ist in dem Sinne auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die eine Pflicht zur Information und Konsultation der Arbeitnehmer vorsieht, wenn innerhalb eines Zeitraums von 90 Tagen mindestens 20 Arbeitnehmer eines einzelnen Betriebs eines Unternehmens entlassen werden, nicht aber, wenn die Gesamtzahl der Entlassungen in allen Betrieben oder in bestimmten Betrieben eines Unternehmens innerhalb desselben Zeitraums die Schwelle von 20 Arbeitnehmern erreicht oder übersteigt.

Anmerkung:

Unter „Massenentlassungen“ iSd RL 98/59/EG sind nicht Entlassungen iSd österreichischen arbeitsrechtlichen Terminologie zu verstehen, sondern werden darunter nach Art 1 Abs 1 lit a RL 98/59/EG „Entlassungen“ verstanden, die ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, vornimmt.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 19431 vom 05.05.2015