Dieser Inhalt ist frei verfügbar. Mit einem Abonnement des ARD erhalten Sie die Zeitschrift in Print und vollen digitalen Zugriff im Web, am Smartphone und Tablet. Mehr erfahren…
Testen Sie
ALLE 13 Zeitschriftenportale
30 Tage lang kostenlos.
Der Zugriff endet nach 30 Tagen automatisch.
Alle LexisNexis-Fachzeitschriften sind im Volltext auch in Lexis 360® verfügbar.
Lexis 360 ist Österreichs innovativste* Recherchelösung und bietet Zugriff auf
alle relevanten Quellen von Rechtsnews, Gesetzen, Urteilen und Richtlinien bis
zu Fachzeitschriften und Kommentaren.
Testen Sie jetzt Lexis 360® kostenlos.
*Ergebnis einer Umfrage unter 225 Steuerberater:innen und Rechtsanwält:innen (Mai 2024) durchgeführt von IPSOS im Auftrag von LexisNexis Österreich.
GRC: Art 50, Art 52
7. ZPMRK: Art 4
Der Grundsatz ne bis in idem (Art 50 GRC) verbietet eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur iS dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat. Eine Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem kann jedoch nach Art 52 Abs 1 GRC gerechtfertigt werden.
Damit eine nationale Regelung, die eine Kumulierung von strafrechtlichen und verwaltungsstrafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zulässt, nach Art 52 Abs 1 GRC gerechtfertigt werden kann, muss sie
- | eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung haben (hier: Schutz der Finanzmärkte und des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Finanzinstrumente bzw Erhebung der Mehrwertsteuer), wobei mit den Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden müssen, |
- | klare und präzise Regeln aufstellen, die es den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt, |
- | sicherstellen, dass die Verfahren untereinander koordiniert werden, damit die zusätzliche Belastung durch die Kumulierung von Verfahren für die Betroffenen auf das zwingend Erforderliche beschränkt wird, und |
- | sicherstellen, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das im Verhältnis zur Schwere der betreffenden Straftat zwingend Erforderliche beschränkt wird. |
EuGH 20. 3. 2018, C-524/15, Menci
EuGH 20. 3. 2018, C-537/16, Garlsson Real Estate ua
EuGH 20. 3. 2018, C-596/16 und C-597/16, Di Puma
Ausgangslage
Zu italienischen Vorabentscheidungsersuchen.
In den vier italienischen Rechtssachen wird der EuGH um Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem im Rahmen der RL 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MehrwertsteuersystemRL [MwSt-SystemRL]) und der RL 2003/6/EG über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) ersucht.
Entscheidung
C-524/15
In der Rs C-524/15 zur RL 2006/112/EG (MwSt-SystemRL) hält der EuGH fest, dass das Ziel, die Erhebung der im jeweiligen Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gesamten geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten, eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur rechtfertigen kann. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das nationale Gericht geht der EuGH auch davon aus, dass die italienische Regelung die Gewähr dafür bietet, dass die nach ihr zulässige Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels zwingend erforderlich ist.
Zudem weist der EuGH in seiner Begründung darauf hin, dass auch der EGMR schon entschieden hat, dass eine Kumulierung von steuer- und strafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, mit denen derselbe Verstoß gegen Steuergesetze geahndet wird, den Grundsatz ne bis in idem gem Art 4 des 7. ZP-EMRK nicht verletzt, wenn es zwischen dem Steuerverfahren und dem Strafverfahren einen hinreichend engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang gibt (EGMR 15. 11. 2016, 24.130/11 und 29.758/11, A und B gegen Norwegen, CE:ECHR:2016:1115JUD002413011).
Der EuGH hat für Recht erkannt:
1. | Art 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der eine Person, die die geschuldete Mehrwertsteuer nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abgeführt hat, in einem Strafverfahren verfolgt werden kann, obwohl sie wegen derselben Tat bereits mit einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur iSv Art 50 belegt wurde, sofern diese Regelung
|
2. | Es ist Sache des nationalen Gerichts, sich unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsverfahrens zu vergewissern, dass die Belastung, die sich für den Betroffenen aus der Anwendung der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung und aus der nach ihr zulässigen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen konkret ergibt, nicht außer Verhältnis zur Schwere der begangenen Straftat steht. |
C-537/16
Die Vorlagefragen in der Rs C-537/16 betrafen die RL 2003/6/EG über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch). Auch dazu hält der EuGH fest, dass das Ziel, die Integrität der Finanzmärkte der Union und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Finanzinstrumente zu schützen, eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur rechtfertigen kann, wenn zur Erreichung dieses Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen.
Vorbehaltlich der Überprüfung durch das nationale Gericht scheint jedoch die italienische Regelung zur Ahndung von Marktmanipulationen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu wahren: Danach ist es zulässig, ein Verwaltungsverfahren strafrechtlicher Natur wegen derselben Tat durchzuführen, die bereits Gegenstand einer strafrechtlichen Verurteilung war. Die rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung selbst dürfte allerdings schon geeignet sein, die Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden. Die Fortsetzung eines Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur ginge somit über das hinaus, was zur Zielerreichung zwingend erforderlich ist. Zudem scheint die Regelung keine Gewähr dafür zu bieten, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das beschränkt bleibt, was aufgrund der Schwere der betreffenden Straftat zwingend erforderlich ist.
Der EuGH hat für Recht erkannt:
1. | Art 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es zulässig ist, gegen eine Person ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur wegen rechtswidriger Marktmanipulationen fortzusetzen, wegen denen sie bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, sofern diese Verurteilung unter Berücksichtigung des der Gesellschaft durch die begangene Straftat zugefügten Schadens geeignet ist, die Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden. |
2. | Der in Art 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgte Grundsatz ne bis in idem verleiht dem Einzelnen ein Recht, das im Rahmen eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens unmittelbar anwendbar ist. |
C-596/16 und C-597/16
Die Ausgangsverfahren zur E EuGH 20. 3. 2018, C-596/16 und C-597/16, Di Puma, werfen die Frage auf, ob ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur fortgesetzt werden kann, wenn in einem endgültigen freisprechenden Strafurteil festgestellt wurde, dass die Tat (Verstoß gegen die Rechtsvorschriften über Insider-Geschäfte) nicht erwiesen ist, auf deren Grundlage dieses Verfahren eingeleitet wurde.
In einer solchen Situation ginge die Fortsetzung eines Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur nach Ansicht des EuGH offensichtlich über das hinaus, was zur Zielerreichung erforderlich ist (Schutz der Integrität der Finanzmärkte und des Vertrauens der Öffentlichkeit in die Finanzinstrumente), weil es ein endgültiges freisprechendes Strafurteil gibt, in dem festgestellt wird, dass der Tatbestand der Straftat, die nach Art 14 Abs 1 RL 2003/6/EG geahndet werden soll, nicht erfüllt ist.
Angesichts einer solchen Feststellung, deren Rechtskraft sich auch auf ein solches Verfahren erstreckt, scheint nämlich dessen Fortsetzung jeder Grundlage zu entbehren. Unbeschadet der Möglichkeit, das Strafverfahren gegebenenfalls wiederaufzunehmen, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere Mängel aufweist, steht Art 50 GRC daher in einer Situation wie im Ausgangsverfahren der Fortsetzung des Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur entgegen.
Der EuGH hat für Recht erkannt:
Art 14 Abs 1 der RL 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. 1. 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) ist im Licht von Art 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion nicht fortgesetzt werden darf, nachdem in einem endgültigen freisprechenden Strafurteil festgestellt wurde, dass die Tat, die einen Verstoß gegen die Rechtsvorschriften über Insider-Geschäfte begründen kann und auf deren Grundlage auch dieses Verfahren eingeleitet wurde, nicht erwiesen ist.