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EuGH: Folgen einer unterlassenen Information der Behörde bei geplanten Massenentlassungen

Bearbeiter: Manfred Lindmayr

RL 98/59/EG: Art 2 Abs 3

ArbVG: § 109 Abs 1a

AMFG: § 45a Abs 3

Die Verpflichtung des Arbeitgebers, den Behörden in einem frühen Stadium beabsichtigter Massenentlassungen Informationen darüber mitzuteilen (ua über die Gründe der geplanten Dienstvertragsauflösungen, die Zahl und die Kategorien der betroffenen Arbeitnehmer sowie den Zeitraum, in dem die Auflösungen vorgenommen werden sollen), hat nicht den Zweck, den betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Diese Mitteilung erfolgt nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken und ermöglicht es der zuständigen Behörde lediglich, sich einen Überblick über die Gründe sowie die Folgen der geplanten Auflösungen zu verschaffen.

EuGH 13. 7. 2023, C‑134/22, G GmbH

Sachverhalt und bisheriges Verfahren

Im deutschen Ausgangsfall musste ein Unternehmen nach Eintritt der Insolvenz die Dienstverhältnisse zahlreicher Mitarbeiter auflösen. Am 17. 1. 2020 wurde das Verfahren zur Konsultation des Betriebsrats eingeleitet und dem Betriebsrat die in der Richtlinie 98/59/EG des Rates [zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen] genannten Informationen mitgeteilt. Der zuständigen Behörde – der Agentur für Arbeit Osnabrück (Deutschland) – wurde jedoch keine Abschrift dieser schriftlichen Mitteilung zugeleitet. Am 22. 1. 2020 erklärte der Betriebsrat, dass er keine Möglichkeit sehe, die beabsichtigten Entlassungen zu vermeiden. Tags darauf wurde der Entwurf der Massenentlassung der Agentur für Arbeit mitgeteilt. Anschließend beraumte sie Beratungstermine für die meisten der von den beabsichtigten Entlassungen betroffenen Arbeitnehmer an.

Einer der betroffenen Arbeitnehmer klagte auf Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung. Er machte geltend, dass der zuständigen Agentur für Arbeit keine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat vom 17. 1. 2020 übermittelt worden sei, obwohl dies eine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Kündigung darstelle. Das in der Revisionsinstanz mit der Rechtssache befasste deutsche Bundesarbeitsgericht sieht in der unterbliebenen Übermittlung einen Verstoß gegen das deutsche Gesetz zur Umsetzung der Unionsrichtlinie in nationales Recht. Weder die Richtlinie noch das nationale Recht sehe jedoch eine ausdrückliche Sanktion für einen solchen Verstoß vor. Unter diesen Umständen äußert das Bundesarbeitsgericht Zweifel, ob der Verstoß zwangsläufig zur Nichtigkeit einer Kündigung führt. Für die Zwecke der von ihm vorzunehmenden Prüfung bedürfe es der Klärung, ob Art 2 Abs 3 Unterabs 2 der RL 98/59/EG den Zweck habe, den Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren. Über das vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen hat der EuGH wie folgt entschieden:

Informationspflichten nach der RL 98/59/EG

Beabsichtigt ein Arbeitgeber, Massenentlassungen vorzunehmen, hat er die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig zu konsultieren, um zu einer Einigung zu gelangen. Damit die Arbeitnehmervertreter konstruktive Vorschläge unterbreiten können, hat der Arbeitgeber ihnen rechtzeitig im Verlauf der Konsultationen die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und in jedem Fall schriftlich Folgendes mitzuteilen (Art 2 Abs 3 RL 98/59/EG):

i)die Gründe der geplanten Entlassung;
ii)die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer;
iii)die Zahl und die Kategorien der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer;
iv)den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen;
v)die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, soweit die innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken dem Arbeitgeber die Zuständigkeit dafür zuerkennen;
vi)die vorgesehene Methode für die Berechnung etwaiger Abfindungen, soweit sie sich nicht aus den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken ergeben.

Der Arbeitgeber hat der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Unterabsatz 1 Buchstabe b) Ziffern i) bis v) genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln.

Hinweis: In Österreich wurden diese Vorgaben der Richtlinie in § 109 Abs 1a ArbVG (Informationspflicht gegenüber Betriebsrat) und § 45a Abs 3 AMFG (Pflicht zum Nachweis der Konsultation des Betriebsrates gegenüber dem AMS) umgesetzt.

Keine Folgen bei unterlassener Informationsübermittlung

Der EuGH kommt zum Ergebnis, dass die Verpflichtung eines Arbeitgebers, der Massenentlassungen beabsichtigt, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in ihrem Art 2 Abs 3 Unterabs 1 Buchst b Z i bis v genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung, die er den Arbeitnehmervertretern für Konsultationszwecke zugeleitet hat, zu übermitteln, nicht den Zweck hat, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren:

Der Zweck der Konsultationen mit den Arbeitnehmervertretern besteht darin, Kündigungen von Arbeitsverträgen zu vermeiden oder ihre Zahl zu beschränken sowie ihre Folgen zu mildern. Die Auskünfte können im Verlauf der Konsultationen erteilt werden und sind nicht unbedingt zum Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrens zu ihrer Durchführung zu erteilen. Die Auskünfte unterliegen im Lauf der Zeit einer Entwicklung und können sich ändern, damit die Arbeitnehmervertreter in die Lage versetzt werden, konstruktive Vorschläge zu unterbreiten. Daraus folgt aber, dass es die Übermittlung der fraglichen Informationen der zuständigen Behörde nur ermöglicht, sich ua über die Gründe der geplanten Entlassungen, die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer sowie den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, einen Überblick zu verschaffen. Sie kann daher nicht voll und ganz auf die übermittelten Informationen vertrauen, um die bei einer Massenentlassung in ihre Zuständigkeit fallenden Maßnahmen vorzubereiten.

Zum anderen wird der zuständigen Behörde im Verfahren der Konsultation der Arbeitnehmervertreter keine aktive Rolle zugewiesen. Sie ist nämlich nur die Adressatin einer Abschrift bestimmter Bestandteile der fraglichen Mitteilung, im Gegensatz zu ihrer aktiven Rolle in späteren Abschnitten des Verfahrens. Im Übrigen setzt die fragliche Übermittlung weder eine vom Arbeitgeber einzuhaltende Frist in Gang noch schafft sie eine Verpflichtung für die zuständige Behörde. Daher erfolgt die Übermittlung nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, damit die zuständige Behörde gegebenenfalls ihre weiteren Befugnisse wirksam ausüben kann. Somit soll die Verpflichtung, Informationen zu übermitteln, es ihr ermöglichen, die negativen Folgen beabsichtigter Massenentlassungen so weit wie möglich abzuschätzen, damit sie, wenn ihr diese Entlassungen später angezeigt werden, in effizienter Weise nach Lösungen für die dadurch entstehenden Probleme suchen kann. In Anbetracht des Zwecks dieser Informationsübermittlung und der Tatsache, dass sie in einem Stadium erfolgt, in dem der Arbeitgeber die Massenentlassungen nur beabsichtigt, soll sich die zuständige Behörde nicht mit der individuellen Situation jedes einzelnen Arbeitnehmers befassen, sondern die beabsichtigten Massenentlassungen allgemein betrachten.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 34293 vom 20.07.2023