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EuGH: Kinderbetreuungsgeld für Ehemann einer deutschen Grenzgängerin

Bearbeiter: Bettina Sabara / Bearbeiter: Barbara Tuma

VO (EG) 883/2004: Art 67, ARt 68 Abs 2

VO (EG) 987/2009: Art 60 Abs 2

KBGG: §§ 24 ff

Lebt eine Familie mit ihrem gemeinsamen Kind in Deutschland, wo auch der Vater beschäftigt ist, während die Mutter als Grenzgängerin in Österreich einer Erwerbstätigkeit nachgeht, muss Österreich nach den europarechtlichen Vorschriften dem Vater den Unterschiedsbetrag zwischen dem in Deutschland bezogenen Elterngeld und dem einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld in Österreich als Familienleistung zahlen. Für die Berechnug dieses Unterschiedsbetrags ist das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld nach dem Einkommen des Vaters zu bemessen, das dieser in Deutschland tatsächlich erzielt, und nicht nach einem Einkommen, das er in Österreich aus einer vergleichbaren Erwerbstätigkeit hypothetisch erzielen würde.

EuGH 18. 9. 2019, C-32/18, Moser

Zum Vorabentscheidungsersuchen des OGH 10 ObS 74/17f siehe Rechtsnews 24942 = ARD 6586/14/2018.

Entscheidung

Prioritätsregel und Unterschiedsbetrag vom nachrangigen Mitgliedstaat

In seinen Entscheidungsgründen stellt der EuGH zunächst klar, dass sich der Ehemann einer deutschen Grenzgängerin auf die Fiktion des Art 67 VO (EG) 883/2004 berufen kann, wonach die gesamte Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats (hier: Österreich) fallen und dort wohnen (vgl dazu auch EuGH 22. 10. 2015, C-378/14, Trapkowski, ARD 6509/19/2016). Wenn nun § 24 Abs 1 Z 2 KBGG den Bezug der Leistung an die Erfüllung von Versicherungszeiten in Österreich knüpft, so ist diese Voraussetzung als erfüllt anzusehen, wenn der Betroffene im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats erwerbstätig war.

Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren, so kommt gemäß der Antikumulierungsvorschrift des Art 68 Abs 1 Buchst b VO (EG) 883/2004 für Ansprüche, die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelöst werden, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats des Wohnorts der Kinder Priorität zu; Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats werden gem Art 68 Abs 2 VO (EG) 883/2004 bis zur Höhe dieser vorrangigen Leistungen ausgesetzt und erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag zu gewähren. Solche Antikumulierungsvorschriften sollen dem Leistungsempfänger einen Gesamtbetrag an Leistungen garantieren, der gleich dem Betrag der günstigsten Leistung ist, die ihm nach dem Recht nur eines dieser Staaten zusteht.

Gemäß dieser Prioritätsregel sind im Ausgangsverfahren die Rechtsvorschriften Deutschlands vorrangig und die Familienleistungen nach anderen Rechtsvorschriften (hier: Österreich) werden ausgesetzt und sind gegebenenfalls in Form des Unterschiedsbetrags zu gewähren.

Tatsächliches Einkommen maßgeblich

Weiters hatte der EuGH hier zu klären, ob sich die Höhe des von Österreich zu leistenden Unterschiedsbetrags nach dem tatsächlich erzielten Einkommen im Beschäftigungsstaat (Deutschland) bemisst oder nach einem Einkommen, das im nachrangig zuständigen Mitgliedstaat (Österreich) aus einer vergleichbaren Erwerbstätigkeit erzielt würde.

In diesem Zusammenhang verweist der EuGH auf seine Rechtsprechung, wonach Art 68 VO (EG) 883/2004 dem Empfänger einen Gesamtbetrag an Leistungen verschiedener Mitgliedstaaten garantieren soll, der gleich dem Betrag der günstigsten Leistung ist, die ihm nach dem Recht nur eines dieser Staaten zusteht (EuGH 30. 4. 2014, Wagener, C-250/13, Rn 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Abgesehen von etwaigen praktischen Schwierigkeiten für die zuständigen Träger bei Feststellung eines Referenzeinkommens der Betroffenen, steht die Auslegung im Sinne einer Bemessung der Höhe des Unterschiedsbetrags anhand des im Beschäftigungsstaat tatsächlich erzielten Einkommens im Einklang mit dem Ziel, das sowohl die gegenständlichen innerstaatlichen Rechtsvorschriften als auch die unionsrechtlichen Bestimmungen im Bereich der sozialen Sicherheit der Wanderarbeitnehmer verfolgen: Das österreichische einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld stellt eine Ersatzleistung für das Erwerbseinkommen dar, wodurch es dem Erwerbstätigen ermöglicht wird, eine Leistung zu beziehen, deren Höhe vom Betrag des Einkommens abhängt, das er zum Zeitpunkt ihrer Zuerkennung erzielt. Folglich sind zur Erreichung dieses Ziels die Einkommensverhältnisse im Beschäftigungsstaat zu beurteilen, zumal das Einkommen im Rahmen grenzüberschreitender Konstellationen regelmäßig im Beschäftigungsstaat des Arbeitnehmers höher sein wird.

Die Höhe des Unterschiedsbetrags, der einem Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats zusteht, ist daher nach dem Einkommen zu bemessen, das er in seinem Beschäftigungsstaat tatsächlich erzielt.

Der EuGH hat für Recht erkannt:

1.Art 60 Abs 1 Satz 2 der VO (EG) 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 9. 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass die in dieser Vorschrift für die Bestimmung des Umfangs des Anspruchs einer Person auf Familienleistungen vorgesehene Verpflichtung zur Berücksichtigung „der gesamten Familie in einer Weise ..., als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen“, sowohl für den Fall gilt, dass die Leistungen nach den gem Art 68 Abs 1 Buchst b Ziff i der VO (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. 4. 2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit als vorrangig bestimmten Rechtsvorschriften gewährt werden, als auch für jenen Fall, dass die Leistungen nach einer oder mehreren anderen Rechtsvorschriften geschuldet werden.
2.Art 68 der VO (EG) 883/2004 ist dahin auszulegen, dass die Höhe des Unterschiedsbetrags, der einem Arbeitnehmer nach den Rechtsvorschriften eines gem dieser Bestimmung nachrangig zuständigen Mitgliedstaats zusteht, nach dem von diesem Arbeitnehmer in seinem Beschäftigungsstaat tatsächlich erzielten Einkommen zu bemessen ist.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 27988 vom 25.09.2019