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ASVG idF BGBl I 2020/158: § 733
Die Anfechtungstatbestände der IO regeln nicht die Abwicklung des Verfahrens, sondern die Beziehungen der Verfahrensbeteiligten. Die Bestimmungen stellen damit materielles Recht dar. Gleiches gilt für die Einschränkung der Anfechtungsmöglichkeit bzw den Ausschluss des Anfechtungsrechts in den jeweiligen Fassungen von § 733 Abs 11 ASVG, der als eine der beitragsrechtlichen Erleichterungen für Dienstgeber aufgrund der Coronavirus-Pandemie vorsieht, dass Zahlungen (Beiträge), die während der Stundungs- sowie der Teil- und Ratenzahlungszeiträume nach den Abs 7 bis [nunmehr] 8c geleistet wurden, nicht nach der IO oder der AnfO angefochten werden können.
Enthält eine gesetzliche Anspruchsgrundlage (wie hier) mehrere Tatbestandselemente, ist der Gesamttatbestand erst dann verwirklicht, wenn sämtliche Komponenten des Tatbestands erfüllt sind. Die maßgebliche Rechtslage für die Beurteilung eines Anspruchs bestimmt sich bei einer Gesetzesänderung auch dann nach dem Zeitpunkt der vollständigen Verwirklichung des Gesamttatbestands, wenn ein einzelnes Tatbestandselement bereits vor Inkrafttreten des geänderten Gesetzes erfüllt wurde.
Der hier maßgebliche § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 2020/158 (2. SVÄG 2020) ist am 1. 1. 2021 in Kraft getreten. Dieser Anfechtungsausschluss ist (in zeitlicher Hinsicht) somit nur auf Fälle anzuwenden, in denen die vollständige Verwirklichung des Gesamttatbestands nach dem 1. 1. 2021 erfolgt.
Da die angefochtene Rechtshandlung (Überweisung von SV-Beiträgen an die ÖGK) hier im Juli 2020 und die Eröffnung des Insolvenzverfahrens im August 2020 erfolgte, hat sich der maßgebliche Gesamttatbestand bereits vor Inkrafttreten des 2. SVÄG (BGBl I 2020/158) abschließend verwirklicht, sodass der Anfechtungsausschluss des § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 2020/158 nicht anzuwenden ist.
Sachverhalt
Das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin (Betreiberin mehrerer Reisebüros) wurde am 27. 8. 2020 eröffnet. Noch am 24. 7. 2020 hatte sie mehrere Überweisungen an die bekl ÖGK betr die Beitragszeiträume April bis Juni 2020 vorgenommen. Eine Ratenzahlungs- oder Stundungsvereinbarungen zwischen der Schuldnerin und der Bekl gab es nicht (nur ein einzelnes Stundungsersuchen der Schuldnerin im April 2020), bis Anfang März 2020 war die Schuldnerin auch nicht in wirtschaftlichen Schwierigkeiten; die Geschäftslage verschlechterte sich jedoch infolge der Corona-Pandemie. Das Geschäftskonto der Schuldnerin blieb bis zur späteren Insolvenzeröffnung stets deutlich im Haben, allerdings fehlten ihr zum Zeitpunkt der angefochtenen Zahlungen (also am 24. 7. 2020) die liquiden Mittel zur Befriedigung aller Rückerstattungsansprüche, die Kunden geltend gemacht hatten. Auslöser für den Eigenantrag der Schuldnerin auf Insolvenzeröffnung im August 2020 war die Anmeldung der Insolvenz durch die Konzernmuttergesellschaft in der Schweiz. Der Bekl war die „allfällige Überschuldung, Zahlungsunfähigkeit, Begünstigungs- und/oder Benachteiligungsabsicht“ der Schuldnerin nicht bekannt. Sie unternahm 2020 keine Nachforschungen zur wirtschaftlichen Situation der Schuldnerin.
Für die Monate April bis Juni 2020 hatte die Schuldnerin über ihren Antrag vom AMS Zahlungen „für Beiträge“ als Kurzarbeitsbeihilfen (§ 37b AMSG) erhalten.
Die Anfechtung der Zahlungen vom 24. 7. 2020 stützt die kl Insolvenzverwalterin zunächst auf § 733 Abs 9 ASVG (Fälligkeitsregelung betr Beiträge, für die Kurzarbeitsbeihilfen gewährt wird; die Bekl habe die Zahlungen „nicht in der Zeit“ beanspruchen dürfen, sodass diese der Anfechtung nach § 30 Abs 1 Z 1 IO unterlägen). Darüber hinaus stützt die Kl die Anfechtungsklage auch auf § 28 IO (Benachteiligungsabsicht), § 30 Abs 1 Z 3 IO (Begünstigungsabsicht) und § 31 Abs 1 Z 2 IO (Unkenntnis der Zahlungsunfähigkeit). Der Anfechtungsausschluss gem § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 2020/158 sei nicht anzuwenden, weil diese Bestimmung erst mit 1. 1. 2021 in Kraft getreten sei.
Gegen die Abweisung ihres Klagebegehrens durch die Vorinstanzen richtet sich die ordentliche Revision der Kl, die wegen des Fehlens höchstgerichtlicher Rsp zur Reichweite des § 733 Abs 11 ASVG zwar zulässig, im Ergebnis aber nicht berechtigt war.
Entscheidung
§ 733 Abs 11 ASVG nicht anwendbar
Der Anfechtungsausschluss des § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 2020/158 (2. SVÄG) ist im vorliegenden Fall schon infolge der zeitlichen Lagerung der angefochtenen Rechtshandlung (Zahlung im Juli 2020 und Eröffnung des Insolvenzverfahrens im August 2020) nicht anzuwenden.
Auch § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 2020/99 (2. FORG) findet keine Anwendung: Zwar hat sich der maßgebliche Gesamttatbestand erst nach Inkrafttreten des 2. FORG abschließend verwirklicht, allerdings verweist die Bestimmung auf die „Stundungs- sowie die Teil- und Ratenzahlungszeiträume nach den Abs 7 und 8“ und damit gerade nicht auf § 733 Abs 9 ASVG, der Regelungen zu Beiträgen enthält, für die der Arbeitgeber einen Anspruch (ua) auf Beihilfe durch das AMS hat, wobei Abs 9 die Anwendung der Abs 7 und 8 in diesen Fällen ausschließt. Die Regelung des § 733 Abs 11 ASVG idF BGBl I 2020/99 (2. FORG) bezieht sich damit nicht auf Beitragszahlungen, für die – wie hier – Kurzarbeitsbeihilfe (§ 37b AMSG) gewährt wurde (siehe dazu auch OGH 14. 2. 2023, 17 Ob 15/22p, Rechtsnews 33828).
Keine Inkongruenz iSd § 30 Abs 1 Z 1 IO
In der Folge beschäftigt sich der OGH in seinen Entscheidungsgründen ausführlich mit der Anfechtung gem § 30 Abs 1 Z 1 IO (Inkongruenz). Im Revisionsverfahren allein strittig ist, ob die Bekl die am 24. 7. 2020 erlangte Befriedigung „in der Zeit zu beanspruchen hatte“. Diesbezüglich prüft der OGH in einem ersten Schritt - gesondert für den Beitragszeitraum April 2020 und die Beitragszeiträume Mai und Juni 2020 –, ob die SV-Beiträge im Zeitpunkt der erlangten Befriedigung fällig waren.
Dabei kommt er zum Ergebnis, dass die SV-Beiträge für Mai und Juni 2020 im Zahlungszeitpunkt gem § 58 Abs 1 ASVG fällig waren (diese Zeiträume waren in § 733 Abs 1 ASVG idF BGBl I 2020/16 nicht genannt, die VO vom 10. 6. 2020 hat die in § 733 Abs 1 ASVG genannten Zeiträume nicht verändert; BGBl I 2020/99 [2. FORG] war noch nicht kundgemacht und § 733 Abs 9 ASVG idF BGBl I 2020/99 zur Fälligkeit damit im Zahlungszeitpunkt noch nicht Rechtsbestand); eine von § 58 Abs 1 ASVG abweichende Regelung gab es nicht. Die Annahme einer inkongruenten Deckung unter dem Blickwinkel mangelnder Fälligkeit scheidet damit aus.
Betr die SV-Beiträge für April 2020 liegt eine Sonderkonstellation vor: Die SV-Beiträge waren nach der allgemeinen Regelung des § 58 Abs 1 ASVG zwar fällig, aufgrund gesetzgeberischer Anordnungen infolge der Corona-Pandemie aber im Zahlungszeitpunkt nicht durchsetzbar (reine Stundung). Da die Lit grundsätzlich einen klagbaren Anspruch des Gläubigers im Leistungszeitpunkt zur Vermeidung von Inkongruenz fordert (RS0064420), läge es zwar nahe, diese fehlende Durchsetzungsmöglichkeit der Bekl im Zahlungszeitpunkt zu deren Lasten dahin auszulegen, dass sie die Zahlungen „nicht in der Zeit“ zu beanspruchen hatte. Die Bekl hat jedoch – anders als ein „normaler“ Gläubiger – keine Abreden oder Vereinbarungen mit dem Schuldner über die Stundung der Beiträge oder die Zulässigkeit von Betreibungsmaßnahmen getroffen. Vielmehr beruhten alle Änderungen gegenüber dem „normalen“ Fälligkeits- und Durchsetzungskonzept des ASVG auf gesetzgeberischen Maßnahmen; die Stundung der Beiträge für April 2020 erfolgte automatisch. Damit unterscheidet sich der vorliegende Fall auf Sachverhaltsebene maßgeblich von den Entscheidungen (vgl RS0064420), denen jeweils privatrechtliche Vereinbarungen zugrunde lagen. Für die vorliegende Sonderkonstellation überzeugt den OGH daher die Ansicht, dass nicht jedes Fehlen eines klagbaren Anspruchs zwingend zur Inkongruenz führt, sondern nur eine verdachterregende Abweichung (vgl Koziol/Bollenberger in Bartsch/Pollak/Buchegger, InsR I4 § 30 KO Rz 20).
Zusammenfassend hält der OGH somit letztlich fest, dass keine inkongruente Deckung iS einer „nicht in der Zeit“ zu beanspruchenden Deckung (§ 30 Abs 1 Z 1 IO) vorliegt, wenn ein SV-Träger Beiträge entgegennimmt, zu deren Abdeckung der Schuldner bereits eine Kurzarbeitsbeihilfe (§ 37b AMSG) erhalten hat und die nach der allgemeinen Regelung des § 58 Abs 1 ASVG fällig waren, aufgrund gesetzgeberischer, durch die Corona-Pandemie ausgelöster Anordnungen vom SV-Träger im Zahlungszeitpunkt aber nicht eingeklagt werden konnten.
Keine Nachforschungspflicht der ÖGK
Als Krisenindikator, der eine Nachforschungspflicht auslösen hätte können, kommt im vorliegenden Fall lediglich die Stellung eines bloß formelhaft begründeten Stundungsantrags im April 2020 in Betracht. Ein Ratenzahlungsersuchen allein verpflichtet den Gläubiger allerdings nicht gleichsam automatisch zu Nachforschungen (vgl OGH 17. 10. 2022, 17 Ob 16/22k [Rz 5 mwN] = Rechtsnews 33394). Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund des kurz zuvor erfolgten Beginns der Corona-Pandemie. Andere konkrete, schuldnerbezogene Krisenindikatoren führte die Kl nicht ins Treffen.
Die Rechtsansicht der Kl, dass die allgemeine Betroffenheit der Wirtschaft – insb der Reisebranche – durch die Corona‑Pandemie die Bekl zu weiteren Nachforschungen veranlassen hätte müssen, überzeugt nicht, weil dies einer zumutbare Sorgfaltsanforderungen weit übersteigenden Nachforschungspflicht in einer Ausnahmesituation gleichkommen würde.
Die Voraussetzungen für eine Anfechtung nach § 31 Abs 1 Z 2 IO sind im vorliegenden Fall somit nicht erfüllt.
Fällt der Bekl aber nicht einmal fahrlässige Unkenntnis von der Zahlungsunfähigkeit zur Last fällt, muss auch die Anfechtung nach § 30 Abs 1 Z 3 IO wegen Begünstigungsabsicht scheitern.
Auch eine Anfechtung nach § 28 IO (Benachteiligungsabsicht) scheidet hier aus: Nach den Feststellungen war der Bekl eine „allfällige Benachteiligungsabsicht“ der Schuldnerin nicht bekannt und es bestanden für die Bekl keine Anhaltspunkte, die das Vorliegen einer solchen Absicht indiziert hätten und sie damit zu Nachforschungen veranlassen hätten müssen.
Hinweis:
Die AnfO ist mit Ablauf des 30. 6. 2021 außer Kraft getreten; sie ist weiterhin auf Rechtshandlungen vor dem 1. 7. 2021 anzuwenden (vgl Art 17 BGBl I 2021/86).