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Für Kündigungen von Arbeiterdienstverhältnissen gelten seit 1. 10. 2021 gemäß § 1159 ABGB idF BGBl I 2017/153 grundsätzlich die auch für Angestellte geltenden längeren Kündigungsfristen. Durch Kollektivvertrag können aber für Branchen, in denen Saisonbetriebe iSd § 53 Abs 6 ArbVG überwiegen, abweichende Regelungen, idR kürzere Kündigungsfristen, festgelegt werden.
Die Bestimmungen im ABGB, wonach abweichende Kündigungsfristen in kollektivvertraglichen Regelungen für Branchen, in denen Saisonbetriebe überwiegen, zulässig sind, verstoßen nicht gegen das in Art 18 Abs 1 B-VG verankerte Bestimmtheitsgebot. Dass der Gesetzgeber auf eine Durchschnittsbetrachtung abstellt, indem er nicht den einzelnen Betrieb, sondern eine Branche in ihrer Gesamtheit heranzieht, der überwiegend Saisonbetriebe zugehören, liegt im rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Die Anknüpfung an „Mehrheitsverhältnisse“ („Überwiegen“ von Saisonbetrieben innerhalb einer Branche) zur Schaffung einheitlicher Kündigungs- und Entlassungsregelungen, wonach sämtliche vom Geltungsbereich eines Kollektivvertrages erfasste Betriebe die Vorteile oder Nachteile einer auf eine Durchschnittsbetrachtung abstellenden Regelung des kollektiven Arbeitsrechts für bzw gegen sich gelten lassen können bzw müssen, stellt keinen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz dar.
VfGH 25. 6. 2024, G 29/2024 -> zum Gesetzesprüfungsantrag OGH 9 ObA 38/23p siehe ARD 6891/7/2024
Sachverhalt und bisheriges Verfahren
Mit dem vorliegenden Antrag begehrt der OGH, der VfGH möge § 1159 Abs 1 bis Abs 4 ABGB, hilfsweise § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB, hilfsweise § 1159 Abs 2 Satz 3 ABGB (jeweils idF BGBl I 2017/153) als verfassungswidrig aufheben.
Dem beim VfGH protokollierten Antrag des OGH liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Kläger war bei der beklagten Gesellschaft seit 20. 5. 2021 als Kellner vollzeitbeschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis gelangt der Kollektivvertrag für Arbeiterinnen und Arbeiter im Hotel- und Gastgewerbe zur Anwendung. Das Arbeitsverhältnis wurde vom Arbeitgeber am 5. 10. 2021 zum 21. 10. 2021 aufgekündigt. Mit dem Argument, die Kündigung sei gemäß § 1159 Abs 2 ABGB fristwidrig erfolgt, begehrt der Kläger ua Kündigungsentschädigung bis 31. 12. 2021. Die Gesellschaft betreibe keinen „Saisonbetrieb“, weshalb die gesetzliche Kündigungsfrist des § 1159 Abs 2 ABGB und nicht die kürzere kollektivvertragliche Kündigungsfrist (14 Tage) zur Anwendung gelange.
Der OGH hält die gesetzliche Regelungsermächtigung, wonach durch Kollektivvertrag für Branchen, in denen Saisonbetriebe iSd § 53 Abs 6 ArbVG überwiegen, abweichende Regelungen, idR kürzere Kündigungsfristen, festgelegt werden, für verfassungswidrig. Er führt insbesondere aus, dass damit gegen das Legalitätsprinzip verstoßen werde. Weiters sei keine sachliche Rechtfertigung dafür zu erkennen, dass auch Betriebe die Ausnahmeregelung für sich in Anspruch nehmen können, bei denen das Belastungsargument mangels Saisonabhängigkeit gar nicht greift.
Die seitens des OGH vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die angefochtenen Bestimmungen, insbesondere gegen § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB teilt der VfGH nicht. Er verneint die Verfassungswidrigkeit zusammengefasst wie folgt:
Maßgebliche Bestimmungen
Mit dem am 1. 10. 2021 in Kraft getretenen BGBl I 2017/153 wurde § 1159 ABGB („Kündigung“) neu gefasst. Durch die Neuregelung sollte eine (weitgehende) Vereinheitlichung der Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte bewirkt werden.
Nach § 1159 Abs 1 ABGB kann das ohne Zeitbestimmung eingegangene oder fortgesetzte Dienstverhältnis durch Kündigung nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen in § 1159 ABGB gelöst werden. Mangels einer für den Dienstnehmer günstigeren Vereinbarung kann der Dienstgeber nach § 1159 Abs 2 ABGB idF BGBl I 2017/53 das Dienstverhältnis mit Ablauf eines jeden Kalendervierteljahres durch vorgängige Kündigung lösen. Die Kündigungsfrist beträgt sechs Wochen und erhöht sich nach dem vollendeten zweiten Dienstjahr auf zwei Monate (...). Durch Kollektivvertrag können für „Branchen, in denen Saisonbetriebe iSd § 53 Abs 6 ArbVG überwiegen, abweichende Regelungen festgelegt werden“. Eine korrespondierende Ausnahmeregelung für Arbeitnehmerkündigungen enthält § 1159 Abs 4 Satz 3 ABGB.
Nach § 53 Abs 6 ArbVG gelten als „Saisonbetriebe […] Betriebe, die ihrer Art nach nur zu bestimmten Jahreszeiten arbeiten oder die regelmäßig zu gewissen Zeiten des Jahres erheblich verstärkt arbeiten“.
Kein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot
Nach Auffassung des VfGH hat der Gesetzgeber mit der Bestimmung in § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB in einer dem Bestimmtheitsgebot des Art 18 B-VG entsprechenden Weise festgelegt, unter welchen Voraussetzungen die KV-Parteien von § 1159 Abs 2 Satz 1 und 2 sowie Abs 4 Satz 1 und Satz 2 ABGB abweichende Kündigungsregelungen festlegen dürfen. Dies kann für „Branchen“ erfolgen, „in denen Saisonbetriebe iSd § 53 Abs 6 des ArbVG überwiegen“.
Der OGH hatte bereits in zwei Entscheidungen die hier angefochtenen Bestimmungen anzuwenden und dabei insbesondere die Regelungen im Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB auszulegen (vgl OGH 24. 3. 2022, 9 ObA 116/21f, ARD 6801/6/2022 sowie OGH 27. 4. 2022, 9 ObA 137/21v, ARD 6816/11/2022).
Zunächst hält der VfGH fest, dass die in diesen Bestimmungen verwendeten Begriffe allgemein verständlich und – unter Heranziehung der Interpretationsmethoden – einer Auslegung zugänglich sind.
Soweit der OGH meint, dass bei der Ermittlung der Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB eine lediglich punktuelle Betrachtungsweise nicht genüge, weil das „Überwiegen von Saisonbetrieben“ eine längere zeitliche Dimension erfordere und sich diese Voraussetzungen jederzeit – und für die Rechtsunterworfenen in nicht vorhersehbarer Weise – ändern könnten, erweist dies nicht die mangelnde Bestimmtheit der angefochtenen Bestimmungen. Dass sich faktische Umstände rechtserheblicher Akte ändern können und es damit im Zeitverlauf zu einer Rechtswidrigkeit oder einer Rechtmäßigkeit derselben kommen kann, widerspricht für sich genommen nicht verfassungsrechtlichen Vorgaben, insbesondere auch nicht dem Art 18 B-VG. Es ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte, anhand des § 1159 ABGB die Kriterien zu entwickeln, unter welchen (zeitlichen) Voraussetzungen § 1159 Abs 2 Satz 3 und § 1159 Abs 4 Satz 3 ABGB anwendbar sind. In dieser Hinsicht hat der OGH in seiner Entscheidung 9 ObA 116/21f bereits wesentliche Ausführungen gemacht, nämlich dass es nicht auf ein punktuelles Überwiegen von Saisonbetrieben ankommen kann, „weil das Überwiegen von Saisonbetrieben auch eine gewisse längere zeitliche Dimension erfasst, um branchenkennzeichnend zu sein“.
Der VfGH stimmt dem OGH zu, dass es zum Nachweis der Geltung der kollektivvertraglichen Abweichung vom gesetzlichen Regelungsmodell der Erhebung und Auswertung des entsprechenden Datenmaterials bedarf. Dass in dieser Hinsicht faktische Schwierigkeiten bestehen mögen, die Erfüllung der Voraussetzungen der Anwendbarkeit des § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB nachzuweisen, begründet nicht die mangelnde Bestimmtheit der angefochtenen Regelungen. Der VfGH kann daher nicht erkennen, dass die angefochtenen Bestimmungen, insbesondere § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB, gegen das Bestimmtheitsgebot gemäß Art 18 B-VG verstoßen.
Kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz
Der VfGH teilt die im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz gemäß Art 7 B-VG und Art 2 StGG seitens des OGH geäußerten Bedenken gegen die angefochtenen Bestimmungen nicht:
Dem Gesetzgeber sind durch den Gleichheitsgrundsatz insofern inhaltliche Schranken gesetzt, als er verbietet, sachlich nicht begründbare Regelungen zu treffen sowie sachlich nicht begründbare Differenzierungen vorzunehmen. Innerhalb dieser Schranken ist es dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen durch den Gleichheitsgrundsatz nicht verwehrt, seine politischen Zielvorstellungen auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verfolgen. Dem Gesetzgeber steht bei der Regelung des Kündigungs- und Entlassungsschutzes von Verfassungs wegen ein rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zu. Es steht ihm grundsätzlich frei, je nach Schutzgesichtspunkten unterschiedliche Regelungen iZm der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses vorzusehen.
Der Gesetzgeber stellt in § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB auf eine Durchschnittsbetrachtung („Überwiegen„ von Saisonbetrieben) ab, indem er nicht den einzelnen Betrieb, sondern eine Branche in ihrer Gesamtheit heranzieht, der überwiegend Saisonbetriebe zugehören. Mit diesen Regelungen geht einerseits einher, dass die abweichenden Kündigungsregelungen auch für Betriebe gelten können, die keine Saisonbetriebe sind, aber zu einer Branche gehören, in der Saisonbetriebe überwiegen. Andererseits fallen Saisonbetriebe, die nicht zu einer Branche mit überwiegenden Saisonbetrieben gehören, nicht unter die (Ermächtigungs-)Regelungen gemäß § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB.
Nach Auffassung des VfGH begegnen diese gesetzlichen (Ermächtigungs-)Regelungen aber keinen gleichheitsrechtlichen Bedenken. Es ist dem kollektiven Arbeitsrecht immanent (und vielfach gerade die Zielsetzung von Kollektivverträgen), innerhalb einer Branche die Arbeitsbedingungen zu vereinheitlichen und dadurch gleiche Bedingungen für alle Betriebe dieser Branche zu schaffen, mögen diese auch in Bezug auf ihre Struktur und sonstige Gesichtspunkte unterschiedlich sein. Diese Zielsetzung wird im kollektiven Arbeitsrecht durch die Beschränkung der gesetzlichen Regelungsermächtigungen auf den fachlichen Geltungsbereich eines Kollektivvertrages verwirklicht.
Der Gesetzgeber knüpft gemäß § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB in einer gleichheitsrechtlich nicht zu beanstandenden Weise an „Mehrheitsverhältnisse“ für die Anwendbarkeit der gesetzlichen Regelungsermächtigungen („Überwiegen“ von Saisonbetrieben innerhalb einer Branche), weil durch das gesetzlich grundgelegte und durch Kollektivvertrag zu konkretisierende Regelungskonstrukt aufgrund der Beschränkung der gesetzlichen Regelungsermächtigungen auf den fachlichen Geltungsbereich eines Kollektivvertrages einheitliche Kündigungsregelungen für im Wesentlichen gleichartige Arbeitsverhältnisse geschaffen werden. Das Anknüpfen an „Mehrheitsverhältnisse“ im kollektiven Arbeitsrecht bringt mit sich, dass sämtliche vom Geltungsbereich eines Kollektivvertrages erfasste Betriebe die Vorteile oder Nachteile einer auf eine Durchschnittsbetrachtung abstellenden Regelung des kollektiven Arbeitsrechts für bzw gegen sich gelten lassen können bzw müssen. Da die Zielsetzungen des Gesetzgebers im kollektiven Arbeitsrecht, nämlich für die zu einer Branche gehörenden Betriebe (dh innerhalb des Geltungsbereiches eines Kollektivvertrages) einheitliche Mindestbedingungen zu erreichen, grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen, sind auch die damit regelmäßig verbundenen unterschiedlichen Betroffenheiten für die Betriebe dieser Branche gleichheitsrechtlich nicht zu beanstanden.
Der VfGH kann dementsprechend angesichts der allgemeinen Zielsetzungen des kollektiven Arbeitsrechts nicht finden, dass § 1159 Abs 2 Satz 3 und Abs 4 Satz 3 ABGB dem Gleichheitsgrundsatz widerspräche. Ziel dieser (Ausnahme- bzw Zulassungs-)Bestimmungen ist, den besonderen wirtschaftlichen Gegebenheiten, die überwiegend branchenkennzeichnend sind, in den bezeichneten Branchen durch die Ermöglichung abweichender Kündigungsregelungen Rechnung zu tragen.