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Selbstversicherung in der PV bei Pflege eines Angehörigen

Bearbeiter: Manfred Lindmayr / Bearbeiter: Barbara Tuma

ASVG: § 18b Abs 1

Die Selbstversicherung in der Pensionsversicherung für Zeiten der Pflege eines nahen Angehörigen gemäß § 18b ASVG setzt ua voraus, dass die betreffende Person den Angehörigen „unter erheblicher Beanspruchung ihrer Arbeitskraft“ pflegt. Im Hinblick auf die Normalarbeitszeit von 40 Stunden wöchentlich und das Begriffsverständnis, wonach „erheblich“ weniger als „überwiegend“ ist, ist von einer „erheblichen“ Beanspruchung der Arbeitskraft daher bei einem durchschnittlichen Pflegeaufwand ab 14 Stunden wöchentlich bzw ab 60 Stunden monatlich auszugehen.

VwGH 19. 1. 2017, Ro 2014/08/0084

Sachverhalt

Der Mitbeteiligte stellte bei der Pensionsversicherungsanstalt einen Antrag auf Selbstversicherung in der Pensionsversicherung nach § 18b ASVG für Zeiten der Pflege seiner Mutter. Während die übrigen Voraussetzungen des § 18b ASVG unstrittig vorlagen, ist strittig, ob der seine Mutter unter „erheblicher Beanspruchung“ seiner Arbeitskraft pflegt; die PVA bezweifelt dies im Hinblick auf seine Erwerbstätigkeiten als Angestellter (mit 24 Wochenstunden) und als selbstständiger Landwirt sowie im Hinblick auf die gleichzeitige Beiziehung einer 24-Stunden-Pflegekraft.

Der VwGH erachtete die Revision für zulässig, weil ua Rsp des VwGH zur Auslegung des § 18b Abs 1 ASVG fehlt.

Entscheidung

„Erheblich“

Was unter einer „erheblichen“ Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Pflege iSd § 18b Abs 1 Satz 1 ASVG zu verstehen ist, wird vom Gesetzgeber nicht definiert.

Für den VwGH ergibt sich eine (erste) Eingrenzung des Begriffs daraus, dass die gepflegte Person gem § 18b Abs 1 ASVG einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 3 nach dem BPGG haben muss, was das Vorliegen eines durchschnittlichen Pflegeaufwands von mehr als 120 Stunden monatlich bedeutet (bzw mehr als 28 Stunden wöchentlich).

Da nach den Erläuterungen zum 3. SRÄG 2009, BGBl I 2009/84, mit dem die beitragsfreie Mitversicherung für pflegende Angehörige eingeführt wurde, der Pflegeaufwand ab der Pflegestufe 3 eine „ganz überwiegende“ Beanspruchung der Arbeitskraft darstellt (ErläutRV 197 BlgNR 24. GP 5), war für den VwGH in einem weiteren Schritt festzulegen, welcher Unterschied zwischen den Begriffen „ganz überwiegend“, „überwiegend“ und „erheblich“ besteht. Er stellt dabei auf das allgemeine Sprachverständnis ab, wonach etwas „Erhebliches“ zwar von einigem Gewicht bzw einiger Bedeutung ist, aber weniger als etwas „Überwiegendes“, dem ein größeres Gewicht, nämlich ein „Übergewicht“ im Sinne von mehr als der Hälfte zukommt. Etwas „Überwiegendes“ bleibt wiederum hinter etwas „ganz Überwiegendem“ zurück, dem – als Steigerungsform – ein großes Übergewicht im Sinne von weit mehr als der Hälfte zukommt.

„Erhebliche“ Beanspruchung ab 14 Stunden/Woche

Was nun das konkrete Ausmaß einer Pflege betrifft, die eine „erhebliche“ Beanspruchung der Arbeitskraft iSd § 18b Abs 1 ASVG ausmacht – im Gegensatz zu einer „ganz überwiegenden“ oder (bloß) „überwiegenden“ Beanspruchung –, hat der VwGH folgende Abgrenzung vorgenommen:

-Auszugehen sei davon, dass nach dem Willen des Gesetzgebers eine „ganz überwiegende“ Beanspruchung der Arbeitskraft bei einem durchschnittlichen Pflegeaufwand der pflegenden Person von mehr als 120 Stunden monatlich bzw mehr als 28 Stunden wöchentlich vorliegen soll.
-Eine (bloß) „überwiegende“ Beanspruchung der Arbeitskraft sei daher – im Hinblick auf die Normalarbeitszeit von 40 Stunden wöchentlich (§ 3 AZG) und das oben aufgezeigte Begriffsverständnis (wonach „überwiegend“ ein größeres Gewicht im Sinne von mehr als die Hälfte bedeutet) – bei einem durchschnittlichen Pflegeaufwand ab 21 Stunden wöchentlich bzw ab 90 Stunden monatlich anzunehmen (entspricht mehr als der halben Normalarbeitszeit).
-Eine „erhebliche“ Beanspruchung der Arbeitskraft sei indessen – im Hinblick auf die Normalarbeitszeit von 40 Stunden wöchentlich und das bereits erörterte Begriffsverständnis von „erheblich“ – bei einem durchschnittlichen Pflegeaufwand ab 14 Stunden wöchentlich bzw ab 60 Stunden monatlich anzusetzen. Ein Pflegeaufwand in diesem Umfang sei bereits von einigem Gewicht, entspricht er doch einem erheblichen Anteil (von ungefähr einem Drittel) an der Normalarbeitszeit und auch einem gewichtigen Anteil am gesamten Pflegebedarf (von zumindest Pflegestufe 3).

Weiters hält der VwGH fest, dass die genannte Stundenanzahl einerseits gewährleistet, dass die Selbstversicherung nicht allzu leicht bzw in ausufernder Weise zu Lasten des Bundes beansprucht werden kann, der die Beiträge unbefristet und zur Gänze trägt. Andererseits sei damit sichergestellt, dass die – auch neben einer Erwerbstätigkeit zulässige – Selbstversicherung nicht bloß für Personen eröffnet wird, die ihre bisherige Berufstätigkeit zur Pflege naher Angehöriger überwiegend einschränken oder aufgeben.

Für die Anzahl von Pflegestunden, die für das Ausmaß der Beanspruchung der Arbeitskraft relevant sind, sind nach Ansicht des VwGH nur jene Zeiten zu berücksichtigen, in denen tatsächlich notwendige Leistungen der Betreuung und Hilfe erbracht werden. Um welche Verrichtungen es sich dabei handelt und welcher zeitliche Aufwand damit jeweils verbunden ist, sei anhand der Regelungen des BPGG sowie der dazu ergangenen Einstufungsverordnung zu beurteilen.

24-Stunden-Pflege kein Ausschlusskriterium

Abschließend stellt der VwGH noch klar, dass die Inanspruchnahme einer 24-Stunden-Betreuung kein Ausschlusskriterium für die Selbstversicherung nach § 18b ASVG ist. Dies mag zwar ein Indiz für die alleinige Vornahme der notwendigen Pflegeleistungen durch die beigezogene Pflegekraft sein, doch sei nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die nahen Angehörigen trotzdem womöglich einen Teil der notwendigen Pflegeleistungen verrichten müssen. Dafür müssen aber vom Antragsteller besondere Gründe konkret vorgebracht werden.

Auch der Umstand, dass der Anspruchswerber im vorliegenden Fall einer Erwerbstätigkeit als Angestellter im Umfang von 24 Stunden wöchentlich und zusätzlich als selbstständiger Landwirt nachgeht, schließt die erhebliche Beanspruchung seiner Arbeitskraft durch eine notwendige Pflege nicht aus: Zum einen ist die Selbstversicherung für pflegende Angehörige neben einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit möglich. Zum anderen erscheint es auch im konkreten Fall vorweg nicht ausgeschlossen, dass der Mitbeteiligte neben seinen Erwerbstätigkeiten als Angestellter und als Landwirt noch durchschnittlich 14 Stunden (und mehr) wöchentlich für die Pflege seiner Mutter aufwenden könnte. Eine Pflege in diesem Umfang erfordert nicht zwingend eine Reduktion der daneben ausgeübten Erwerbstätigkeiten, insbesondere wenn die Arbeitszeiten und/oder die Pflegezeiten flexibel gestaltet werden können.

Anmerkung:

In einer weiteren Entscheidung vom selben Tag hat der VwGH noch zwei weitere Klarstellungen getroffen (Ro 2014/08/0082):

-Der Grundsatz, dass der zeitliche Aufwand für die tatsächlich notwendige Betreuungsleistung anhand der Regelungen des BPGG und der EinstV zu beurteilen ist, gilt auch für die Fälle, in denen im Pflegegeldverfahren keine funktionsbezogene Beurteilung des Pflegebedarfs nach § 4 BPGG erfolgt ist bzw zu erfolgen hätte, sondern eine diagnosebezogene Mindesteinstufung (die in § 4a BPGG für bestimmte Behindertengruppen wie zB Rollstuhlfahrer vorgesehen ist). Auch in diesen Fällen bedarf es der Ermittlung des funktionsbezogenen Pflegebedarfs – also eines Pflegebedarfs, der auf die individuell erforderliche Betreuung und Hilfe abstellt –, um das von § 18b Abs 1 ASVG vorausgesetzte Vorliegen einer erheblichen Beanspruchung der Arbeitskraft durch die Pflege beurteilen zu können.
-Auch eine unselbstständige Erwerbstätigkeit im Umfang von 38,5 Stunden wöchentlich steht einer erheblichen Beanspruchung der Arbeitskraft durch eine notwendige Pflege des Angehörigen grundsätzlich nicht entgegen.

(Manfred Lindmayr)

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 23222 vom 03.03.2017