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VfGH: Zu Unrecht empfangene SV-Leistungen – Nachsicht durch das Gericht

Bearbeiter: Manfred Lindmayr / Bearbeiter: Barbara Tuma

ASGG: § 89 Abs 4

GSVG: § 76 Abs 3

Auch wenn die Voraussetzungen für die Rückforderung einer zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistung vorliegen (hier: vorzeitige Alterspension), kann der Versicherungsträger bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umstände auf die Rückforderung zur Gänze oder zum Teil verzichten oder die Erstattung des zu Unrecht bezahlten Betrages in Teilbeträgen zulassen. Die ordentlichen Gerichte können jedoch – infolge einer Einschränkung in § 89 Abs 4 ASGG – bei ihrer Entscheidung im Rahmen der sukzessiven Kompetenz zwar eine Ratenzahlung anordnen, nicht aber die Rückersatzpflicht auch zur Gänze oder teilweise nachsehen. Diese Regelung steht in Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip und ist daher verfassungswidrig. Die einschränkenden Wortfolgen in § 89 Abs 4 ASGG werden daher mit 31. 12. 2021 aufgehoben.

VfGH 11. 12. 2020, G 264/2019

Sachverhalt und bisheriges Verfahren

Der Antragsteller bezieht seit 1. 7. 2010 eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer, gleichzeitig übt er eine selbstständige Tätigkeit aus. Entgegen der ursprünglichen Prognose und Meldung an den Sozialversicherungsträger überschritten seine Einkünfte aus Gewerbebetrieb für das Jahr 2011 die Geringfügigkeitsgrenze. Die SVA sprach daher mit Bescheid den Wegfall der Pension für das Jahr 2011 aus und forderte den Überbezug iHV € 12.596,64 zurück.

Die Klage des Antragstellers dagegen wurde vom Arbeits- und Sozialgericht abgewiesen. Das Gericht ging dabei davon aus, dass nur dem Versicherungsträger, nicht aber auch dem Gericht nach dem klaren Wortlaut des § 89 Abs 4 ASGG das Ermessen eingeräumt sei, aufgrund einer nur marginalen Überschreitung der Geringfügigkeitsgrenze auf die Rückforderung unter analoger Anwendung des § 76 Abs 3 Z 1 GSVG (zumindest zum Teil) zu verzichten.

Aus Anlass seiner Berufung dagegen stellte der Antragsteller auch den vorliegenden Gesetzesprüfungsantrag.

Entscheidung

Gesetzeswortlaut lässt Nachsicht nicht zu

Gemäß § 76 GSVG hat der Versicherungsträger zu Unrecht erbrachte Geldleistungen unter näher bestimmten Voraussetzungen zurückzufordern, kann aber bei Vorliegen berücksichtigungswürdiger Umstände auf die Rückforderung zur Gänze oder zum Teil verzichten oder die Erstattung des zu Unrecht bezahlten Betrages in Teilbeträgen zulassen (§ 76 Abs 3 GSVG).

Ein Bescheid, mit dem der Versicherungsträger zu Unrecht erbrachte Leistungen zurückfordert, impliziert auch den Abspruch, dass im Umfang der Rückforderung vom Ermessen auf Verzicht nach § 76 Abs 3 Z 1 GSVG nicht Gebrauch gemacht wird, sei es, weil die Ermessensvoraussetzungen nicht vorliegen, sei es, weil das Ermessen zu Lasten des Versicherten ausgeübt wird.

Im darauf folgenden ASG-Verfahren über die Pflicht zum Rückersatz einer zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistung hat das Gericht nach § 89 Abs 4 ASGG dem Versicherten bei Bestehen der Rückersatzpflicht den Rückersatz aufzuerlegen und die Leistungsfrist unter Berücksichtigung seiner Familien-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse nach Billigkeit zu bestimmen; insoweit kann das Gericht auch die Zahlung in Raten anordnen.

Nach stRsp des OGH räumt § 89 Abs 4 ASGG den Arbeits- und Sozialgerichten nur die Möglichkeit der Ratengewährung (nach § 107 Abs 3 Z 2 ASVG, § 76 Abs 3 Z 2 GSVG etc) ein, nicht aber auch die Kompetenz für eine gänzliche oder teilweise Nachsicht der Rückzahlungspflicht (nach § 107 Abs 3 Z 1 ASVG, § 76 Abs 3 Z 1 GSVG; vgl ua OGH 23. 6. 1998, 10 ObS 210/98z, ARD 4965/8/98; OGH 23. 3. 2010, 10 ObS 27/10h, ARD 6064/6/2010).

Rechtsstaatsprinzip verletzt

Nach Ansicht des Antragsteller verstößt es gegen das Rechtsstaatsprinzip, wenn Ermessensfehler bei der Rückforderung von Leistungen nicht überprüft werden könnten. Verzichte ein Versicherungsträger auf einen Teil des rückforderbaren Betrages, trete mit der Klage beim Arbeits- und Sozialgericht auch dieser Verzicht außer Kraft, ohne dass das Gericht seinerseits wieder einen Verzicht aussprechen könne.

Diese rechtsstaatlichen Bedenken sind für den VfGH aus folgenden Gründen berechtigt:

Das Rechtsstaatsprinzip verlangt, dass dem Staat zurechenbare Akte in rechtsstaatlicher Weise überprüfbar sind. Diesen Anforderungen trägt insbesondere Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG Rechnung, indem er gegen Bescheide von Verwaltungsbehörden die Beschwerde an die Verwaltungsgerichte eröffnet, sofern nicht etwa eine Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte vorgesehen ist – wie hier die sukzessive Kompetenz der ordentlichen Gerichte gem § 354 Z 2 ASVG für die „Feststellung der Verpflichtung zum Rückersatz einer zu Unrecht empfangenen Versicherungsleistung“ (ohne Ausnahme für den Verzicht auf die Rückforderung hievon). Diese Grundsatzentscheidung des ASVG begegnet für sich genommen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Die sukzessive Kompetenz der ordentlichen Gerichte in Rückforderungsangelegenheiten ist aber nur verfassungsmäßig ausgestattet, wenn den ordentlichen Gerichten im Rahmen ihrer Entscheidung über Rückforderungsansprüche auch die Kognition über den gänzlichen oder teilweisen Verzicht nach § 76 Abs 3 Z 1 GSVG offensteht.

Diesen Anforderungen genügt § 89 Abs 4 ASGG nicht, denn er belastet (in der hier zugrunde zu legenden Auslegung durch die Rsp des OGH) den Rechtschutzsuchenden in rechtsstaatswidriger Weise einseitig mit dem Rechtschutzrisiko, weil dem Arbeits- und Sozialgericht nur eine vollumfängliche Auferlegung der Rückersatzpflicht oder die vollumfängliche Verneinung dieser eingeräumt ist, ohne die Rückersatzpflicht bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 76 Abs 3 Z 1 GSVG in einer Weise mindern zu können, wie es dem Sozialversicherungsträger möglich ist.

§ 89 Abs 4 ASGG steht daher in Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip und der VfGH hat die Wortfolgen „nach § 65 Abs 1 Z 2 oder“ sowie „Rückersatz- oder“, den Wortteil „Rück(“ und das Zeichen „)“ in § 89 Abs 4 ASGG mit Ablauf des 31. 12. 2021 aufgehoben.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 30411 vom 11.02.2021