News

Vorlagefragen zu Alterspension und Kindererziehungszeiten

Bearbeiter: Bettina Sabara / Bearbeiter: Barbara Tuma

VO (EG) 987/2009: Art 44

Der OGH hat beim EuGH ein Vorabentscheidungsverfahren zur Klärung primär der Frage eingeleitet, ob Österreich bei der Berechnung einer Alterspension die Kindererziehungszeiten berücksichtigen muss, die eine Versicherte in anderen Mitgliedstaaten verbracht hat, wenn die Versicherte ihr gesamtes Erwerbsleben hindurch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit nur in Österreich ausgeübt und nur während der Kindererziehungszeiten in anderen Mitgliedstaaten gelebt hat, aber nicht erwerbstätig war.

OGH 13. 10. 2020, 10 ObS 109/20g

Entscheidung

Auslegung des Art 44 DVO 987/2009

Damit im vorliegenden Fall Österreich für die Anrechnung der Kindererziehungszeiten von Frau CC in Belgien und Ungarn (von Dezember 1987 bis Dezember 1992) für den Anspruch auf Alterspension überhaupt zuständig ist, müssten die Voraussetzungen des Art 44 DVO 987/2009 erfüllt sein, was nach Ansicht des OGH jedoch nicht der Fall ist, weil Frau CC weder in Belgien noch in Ungarn eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat.

Selbst unter der Annahme, dass im vorliegenden Fall weder Belgien noch Ungarn (als jeweils zuständige Wohnmitgliedstaaten gemäß Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004) Kindererziehungszeiten berücksichtigen (Art 44 Abs 2 Satz 1 DVO 987/2009), käme eine nachrangige Zuständigkeit Österreichs nach Art 44 Abs 2 Satz 2 DVO 987/2009 nicht in Frage, weil Frau CC im Dezember 1987 (Beginn der Kindererziehungszeit für ihren ersten Sohn) weder eine Beschäftigung noch eine selbstständige Erwerbstätigkeit in Österreich ausgeübt hat.

Daher stellt sich für den OGH zunächst die Frage nach der Auslegung des Art 44 DVO 987/2009.

Möglicher Verstoß gegen das Primärrecht

Art 44 DVO 987/2009 wurde vom Unionsgesetzgeber als Reaktion auf die Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen EuGH 23. 11. 2000, C-135/99, Elsen, ARD 5190/11/2001, und EuGH 7. 2. 2002, C-28/00, Kauer, ARD 5315/12/2002, geschaffen, deren Anwendungsbereich eingegrenzt werden sollte. Diese Bestimmung kann durchaus als eine Durchführungsvorschrift angesehen werden, die das Freizügigkeitsrecht des Art 21 AEUV in zulässiger Weise einschränkt. Dies ergibt sich schon daraus, dass die VO (EG) 883/2004 und die DVO 987/2009 keine Harmonisierung oder auch nur eine Annäherung, sondern lediglich eine Koordinierung der von den Mitgliedstaaten geschaffenen Systeme der sozialen Sicherheit bezwecken; die Versicherten können nicht verlangen, dass ihr Umzug in einen anderen Mitgliedstaat keine Auswirkungen auf die Art oder das Niveau der Leistung hat, die sie in ihrem Herkunftsstaat beanspruchen konnten.

Dagegen spricht jedoch, dass Frau CC – wie insbesondere auch Frau Kauerausschließlich in Österreich gearbeitet und Versicherungszeiten erworben hat, sodass argumentiert werden könnte, dass dieser Umstand eine hinreichende Verbindung zum österreichischen Sozialversicherungssystem aus primärrechtlichen Gründen schaffen kann. Zwar unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von der Rs Kauer dadurch, dass Frau CC nicht mehr in Österreich war, als ihre Kinder geboren wurden. Hingegen ist der vorliegende Sachverhalt jenem der Rs Reichel-Albert vergleichbar, worin der EuGH – damals noch auf Grundlage der VO (EWG) 1408/71 und unter Betonung des primärrechtlichen Fundaments seiner Entscheidung – die hinreichenden Verbindung von Frau Reichel-Albert zum (dort) deutschen Sozialversicherungssystem bejahte und festhielt, dass daran auch nichts ändern könnte, dass während der Zeiten der Kindererziehung die Zuständigkeit Belgiens als Wohnsitzstaat gegeben gewesen war.

Vertrauensschutz

Da die VO (EWG) 1408/71 keine dem Art 44 VO (EG) 883/2004 vergleichbare Regelung enthielt und Frau CC die Kindererziehungszeiten im zeitlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung zurücklegte, sprechen für den OGH bei einer ersten Prüfung auch im vorliegenden Fall beachtliche Gründe dafür, belgische und ungarische Kindererziehungszeiten als nach österreichischem Recht zu prüfende Kindererziehungszeiten zu qualifizieren, weil im Anwendungsbereich der VO (EWG) 1408/71 von einer hinreichenden Verbindung von Frau CC zum österreichischen Sozialversicherungssystem auszugehen wäre. Insofern hätte sich die Situation von Frau CC nach Inkrafttreten des Art 44 DVO 987/2009 mit 1. 5. 2010, daher lange nach Absolvierung der Kindererziehungszeiten, verschlechtert, was nach stRsp des EuGH im Hinblick auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes unzulässig sein könnte (vgl EuGH 12. 5. 2011, C-107/10, Enel Maritsa Iztok).

Der OGH verkennt nicht, dass Art 44 DVO 987/2009 durchaus im Einklang mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes stehen kann, weil diese Bestimmung (nur) künftige Folgen – Erwerb und Höhe einer Alterspension – der vor ihrem Inkrafttreten erworbenen Kindererziehungszeiten regelt. Frau CC hat jedoch immer nur in das österreichische Sozialversicherungssystem Beiträge eingezahlt und war nur in Österreich erwerbstätig. Schon zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Art 44 DVO 987/2009 bestand eine hinreichende Verbindung zum österreichischen Sozialversicherungssystem. Frau CC kann daher nach Ansicht des OGH eine Vertrauensposition erworben haben, in die durch Art 44 DVO 987/2009 in einer den Grundsatz des Vertrauensschutzes verletzenden Weise eingegriffen wird.

„Berücksichtigung“ von Kindererziehungszeiten

Die PVA machte geltend, dass Frau CC die Kindererziehungszeiten in Staaten zurückgelegt habe, die eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten dem Grunde nach vorsehen. Dazu fehlen bisher Verfahrensergebnisse. Damit stellt sich im Fall der Verneinung der ersten Frage die weitere Frage, was es bedeutet, wenn Art 44 Abs 2 erster Halbsatz DVO anordnet, dass der nach den Vorschriften des Titels II der VO (EG) 883/2004 zuständige Mitgliedstaat eine Kindererziehungszeit „berücksichtigt“. Darunter kann man einerseits verstehen, dass dieser Mitgliedstaat im konkreten Einzelfall keine Kindererziehungszeit anrechnet, oder dass dieser Staat ganz generell Kindererziehungszeiten im Katalog seiner Pensionsversicherungszeiten nicht kennt.

Vorlagefragen

Dem EuGH wird folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.Ist Art 44 Abs 2 der VO (EG) 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 9. 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit dahin auszulegen, dass er der Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten verbrachten Kindererziehungszeiten durch einen für die Gewährung einer Alterspension zuständigen Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften die Pensionswerberin mit Ausnahme dieser Kindererziehungszeiten ihr gesamtes Erwerbsleben hindurch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, schon deshalb entgegensteht, weil diese Pensionswerberin zu dem Zeitpunkt, zu dem die Berücksichtigung der Kindererziehungszeit für das betreffende Kind nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats begann, weder eine Beschäftigung noch eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat?

Für den Fall der Verneinung der ersten Frage:

2.Ist Art 44 Abs 2 Satz 1 erster Halbsatz der VO (EG) 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. 9. 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit dahin auszulegen, dass der gemäß Titel II der Verordnung (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zuständige Mitgliedstaat Kindererziehungszeiten nach seinen Rechtsvorschriften generell nicht berücksichtigt, oder nur in einem konkreten Fall nicht berücksichtigt?
Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 29966 vom 23.11.2020