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Zeitguthaben über dem zulässigen Gleitzeitsaldo – Verfall?

Bearbeiter: Bettina Sabara / Bearbeiter: Barbara Tuma

AZG: § 6, § 10

Im vorliegenden Fall sieht die Gleitzeit-Betriebsvereinbarung vor, dass die nicht übertragbaren Gutstunden (dh Zeitguthaben über dem festgelegten Gleitzeitsaldo) am Ende der nächsten Gleitzeitperiode verfallen, sofern deren rechtzeitiger Verbrauch möglich und dem Mitarbeiter zumutbar gewesen wäre. Eine solche Klausel ist unzulässig, wenn darin nicht differenziert wird, ob das Zeitguthaben über dem Gleitzeitsaldo auf Arbeitsleistungen zurückzuführen ist, die dem Arbeitgeber vom Arbeitnehmer „aufgedrängt“ wurden, oder ob das Zeitguthaben arbeitgeberseitig veranlasst oder zumindest entgegengenommen wurde, es also in einer dem Arbeitgeber zurechenbaren Weise zu Leistungen über dem zulässigen Gleitzeitsaldo gekommen ist.

Sofern von dem Verfall – insbesondere bei Vollzeitkräften – auch Überstunden erfasst werden, verstößt die Bestimmung überdies gegen § 10 AZG.

OGH 30. 10. 2019, 9 ObA 75/19y -> zu OLG Wien 9 Ra 1/19m, siehe ARD 6657/7/2019 (Bestätigung)

Sachverhalt

Im vorliegenden Fall wurde eine Rahmenbetriebsvereinbarung (idF: BV) zur Einführung von Gleitzeitmodellen abgeschlossen, deren § 6 auszugsweise lautet:

„(...) Der Gleitzeitsaldo darf am Ende der Gleitzeitperiode maximal +/- 24 Stunden betragen. (...) Der Gleitzeitsaldo wird bis zum festgelegten Höchstausmaß in die nächste Gleitzeitperiode im Verhältnis 1:1 übertragen. Der Mitarbeiter ist verpflichtet, während der Gleitzeitperiode dafür Sorge zu tragen, dass er dieses Höchstausmaß an Übertragungsmöglichkeiten weder in Bezug auf Zeitguthaben noch in Bezug auf Zeitschulden überschreitet. Für den Fall, dass der Mitarbeiter dieser Verpflichtung nicht nachkommt, verfallen die über das festgelegte Höchstausmaß hinausgehenden Zeitguthaben am Ende der nächsten Gleitzeitperiode, sofern deren rechtzeitiger Verbrauch möglich und dem Mitarbeiter zumutbar gewesen wäre. (...)“

Weiter definiert § 8 BV Überstunden ua als „außerhalb der Kernzeit erbrachte Arbeitsleistungen, die vom Vorgesetzten ausdrücklich angeordnet wurden (...).“

Mit seiner Klage begehrt der Zentralbetriebsrat die Feststellung, dass der vorgesehene Verfall des Zeitguthabens gegen zwingendes Arbeitszeitrecht verstoße und somit unwirksam sei.

Während das Erstgericht das Klagebegehren abwies, stellte das Berufungsgericht die Rechtsunwirksamkeit des bekämpften Satzes der BV fest. Der OGH bestätigte die Rechtsansicht des Berufungsgerichts mit der folgenden (zusammengefassten) Begründung:

Entscheidung

Übertragung von Zeitguthaben

§ 4b Abs 1 AZG normiert für gleitende Arbeitszeit das Selbsteinteilungsprinzip. Dafür ist grundsätzlich der Abschluss einer Betriebsvereinbarung (Gleitzeitvereinbarung) erforderlich, die gemäß § 4b Abs 3 AZG ua das Höchstausmaß allfälliger Übertragungsmöglichkeiten von Zeitguthaben und Zeitschulden in die nächste Gleitzeitperiode zu enthalten hat.

Die vorliegende BV erfüllt die Anforderungen des § 4b Abs 3 AZG. Das Höchstausmaß der übertragbaren Zeitguthaben und -schulden wurde mit +/- 24 Stunden begrenzt.

Auch der Arbeitnehmer hat Gleitzeitgrenzen zu beachten, weil ihm das Selbsteinteilungsrecht nur nach Maßgabe der Gleitzeitvereinbarung eingeräumt wurde – hier mit einer Beschränkung des Gleitzeitsaldos auf maximal +/- 24 Stunden. Der Arbeitnehmer wird auch verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass er den Saldo nicht überschreitet. Ein „Recht“ des Arbeitnehmers zum unbeschränkten Aufbau sehr hoher Zeitsalden ist der Gleitzeitvereinbarung daher nicht zu entnehmen.

Der Gefahr, dass es dennoch zu einem „Überstand“ eines Zeitguthabens kommt, wird häufig mit Frühwarnsystemen wie mit einem „Ampelkontomodell“ vorgebeugt (siehe dazu zB Gärtner in Gärtner/Klein/Lutz, Arbeitszeitmodelle4 [2017] 59; Jöst in Risak/Jöst/David/Patka, Praxishandbuch Gleitzeit2 [2014], 101), wovon der Arbeitgeber hier aber keinen Gebrauch macht.

Zur Wahrung des Interesses des Arbeitgebers sieht die Gleitzeitvereinbarung in § 6 Abs 2 S 3 BV vielmehr iS einer Sanktion eine „Kappungsklausel“ vor, nach der auch innerhalb der nächsten Gleitzeitperiode trotz Möglichkeit und Zumutbarkeit nicht abgebaute Zeitguthaben verfallen sollen. Dass eine solche Bestimmung grundsätzlich Gegenstand einer Gleitzeitvereinbarung sein kann, wurde von den Streitteilen nicht bezweifelt. Darauf wird in der Folge nicht Bezug genommen.

Ausgangspunkt für die Prüfung der Wirksamkeit der angeordneten Rechtsfolge ist, dass hinter jedem Zeitguthaben eine bereits geleistete Arbeitsstunde steht, die grundsätzlich auch entlohnungspflichtig ist. Denn es entspricht dem Grundkonzept des Arbeitsvertrags, dass die vom Arbeitnehmer erbrachte und vom Arbeitgeber entgegengenommene Leistung der Entgeltpflicht unterliegt, sofern nicht Unentgeltlichkeit vereinbart wurde. Soll eine Arbeitsstunde „verfallen“, so würde sie weder als geleistet gelten noch einen Entlohnungsanspruch begründen.

Arbeitgeberseitig veranlasste oder „aufgedrängte“ Arbeit

Die BV verpflichtet die Arbeitnehmer hier, selbst dafür Sorge zu tragen, dass das Höchstausmaß des Gleitzeitsaldos nicht überschritten wird, trifft aber sonst keine Vorkehrungen dafür, dass es nicht doch zur Entgegennahme darüber hinausgehender Arbeitsleistungen kommt. Diese generalisierende Rechtsgestaltung lässt aber außer Acht, dass sich die Erbringung von Arbeitsleistungen in der jeweils konkreten Situation verwirklicht und ihre zeitliche Lage auch bei einem Gleitzeitmodell auf (ausdrückliche oder konkludente) Anordnungen des Arbeitgebers zurückgehen kann. Dass es andere Kontrollmaßnahmen dafür gäbe, behauptet der Arbeitgeber nicht.

Der Literatur folgend (ua Schrank, Arbeitszeit5 § 4b Rz 30; Körber-Risak in Reissner/Neumayr, ZellHB BV Besonderer Teil, 41. BV Rz 41.45; Klein in Heilegger/Klein AZG4 § 4b Rz 60) erachtet der erkennende Senat eine Unterscheidung danach für erforderlich, ob ein Zeitguthaben über dem Gleitzeitsaldo arbeitgeberseitig veranlasst oder zumindest entgegengenommen wurde oder ob das nicht der Fall war.

Die vorliegende Gleitzeitvereinbarung nimmt keine solche Differenzierung vor. Damit kann aber gerade nicht gesagt werden, dass sie – losgelöst von den Gegebenheiten des Falls – bei Arbeitsleistungen über das Übertragungshöchstmaß hinaus nur „aufgedrängte“ Arbeit erfassen würde. Insbesondere kann dabei eine bloß vorweg formulierte allgemeine Verpflichtung der Arbeitnehmer, das Übertragungshöchstausmaß nicht zu überschreiten und selbst darauf zu achten, nicht zu der vom Arbeitgeber gewünschten Auslegung führen, weil damit in der konkreten Situation nicht ausgeschlossen ist, dass es dennoch in einer dem Arbeitgeber zurechenbaren Weise zu Leistungen über dem zulässigen Gleitzeitsaldo kommt (zB aufgrund der aufgetragenen zu erledigenden Arbeitsmenge). Entstehen derart vom Verfall laut BV bedrohte Überhänge, widerspricht es im Ergebnis dem arbeitsvertraglichen Grundverständnis, dass Arbeitsleistungen entgeltlich erbracht werden.

Sofern es sich – insbesondere bei Vollzeitkräften – um Überstunden handelt, die nicht abgebaut werden und in der Folge zu einem Entfall des Entgeltanspruchs führen, verstößt die Bestimmung auch gegen die gesetzliche Pflicht zur Überstundenvergütung nach § 10 AZG.

Überstunden auch ohne ausdrückliche Anordnung

Nach ständiger Rechtsprechung besteht ein Anspruch auf Bezahlung von Überstunden nicht nur dann, wenn diese vom Dienstgeber ausdrücklich (oder konkludent) angeordnet werden, sondern auch dann, wenn vom Dienstgeber Arbeitsleistungen verlangt werden, die in der normalen Arbeitszeit nicht erledigt werden können (vgl zB OGH 24. 10. 2012, 8 ObA 59/12b, ARD 6296/3/2013). Letztlich kommt es auf ein Einverständnis mit dem Arbeitgeber an, das durch ausdrückliche Anordnung oder Genehmigung, aber auch konkludent dadurch gegeben sein kann, dass der Arbeitgeber zusätzliche Arbeitsleistung duldet und entgegen nimmt (siehe Pfeil in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 10 AZG Rz 5 mwN).

Bloße Aufforderungen des Arbeitgebers, die Überstunden abzubauen oder sie nicht zu machen, ohne dass er gleichzeitig entlastende organisatorische Maßnahmen ergreift, befreien diesen nicht von der Leistung von Überstundenentgelten.

Selbst wenn der Arbeitgeber Überstundenarbeit ausdrücklich untersagt hat, wird dadurch die nachträgliche stillschweigende Vereinbarung ebensolcher Überstundenarbeit nicht verhindert. Die Qualifikation einer Arbeitsleistung als Überstundenarbeit ist danach – entgegen § 8 BV – nicht auf den Fall beschränkt, dass der Arbeitsleistung eine ausdrückliche Anordnung zugrunde liegt. Es ist folglich auch nicht ausgeschlossen, dass ein Zeitguthaben über dem Gleitzeitsaldo weitere Überstunden enthält.

Wenn die Erbringung der Überstundenleistung nach den aufgezeigten Grundsätzen erfolgt ist, gebührt dem Arbeitnehmer auch zwingend eine Überstundenabgeltung nach § 10 AZG. Auch eine (kollektivvertragliche) Bestimmung, die nur „ausdrücklich“ angeordnete Arbeitsstunden als Überstunden vorsieht, könnte nichts daran ändern, dass solche Stunden als Überstunden zu bezahlen sind, zumal eine derart enge Auslegung solcher Bestimmungen deren Sittenwidrigkeit zur Folge hätte (vgl OGH 22. 2. 2011, 8 ObA 29/10p, ARD 6130/3/2011).

Klausel in BV unzulässig

Nur wenn der Arbeitnehmer einer Weisung nicht nachkommt , Zeitguthaben rechtzeitig vor Ende der Gleitzeitperiode durch Zeitausgleich abzubauen, und die erbrachten Gutstunden auch nicht aufgrund der aufgetragenen Arbeitsmenge erforderlich waren, ist eine gesonderte Entgeltpflicht zu verneinen.

Nichts anderes würde gelten, wenn man § 6 BV als Anordnung dahin versteht, dass die Nachfrist für den Abbau eines 24 Stunden übersteigenden Zeitguthabens in der Folge-Gleitzeitperiode zumindest der Sache nach eine weitere Übertragungsmöglichkeit eröffnet. Nach § 6 Abs 1a AZG gelten in den nächsten Durchrechnungszeitraum übertragbare Zeitguthaben zwar nicht als Überstunden. Die genannten Erwägungen treffen aber auch dann zu, wenn diese Stunden selbst am Ende der Folge-Gleitzeitperiode zu einem über der Höchstgrenze liegenden „Überstand“ führen.

Zusammenfassend ist die bekämpfte Klausel in der BV unzulässig, weil der undifferenzierte Verfall eines Zeitguthabens auch dann zu einem Entfall des Entlohnungsanspruchs führen kann, wenn ihm keine „aufgedrängten“ Arbeitsleistungen zugrunde liegen. Sofern davon auch Überstunden erfasst werden, verstößt die Bestimmung überdies gegen § 10 AZG.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 28546 vom 16.01.2020