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EuGH: Kündigungsfrühwarnsystem und befristete Dienstverträge

Bearbeiter: Barbara Tuma

RL 98/59/EG: Art 1

AMFG § 45a

Für die Feststellung des Vorliegens von „Massenentlassungen“ iSd Art 1 Abs 1 der RL 98/59/EG (MassenentlassungsRL) ist der Ablauf befristeter Dienstverhältnisse grundsätzlich nicht zu berücksichtigen; der Grund für die Vereinbarung einer Befristung ist in diesem Zusammenhang nicht zu prüfen.

Auch wenn eine größere Anzahl von befristeten Dienstverhältnissen innerhalb des relevanten Zeitraums endet, kommt die MassentlassungsRL nicht zur Anwendung, und zwar auch dann nicht, wenn diese Dienstverhältnisse alle für die gleiche Dauer oder Tätigkeit abgeschlossen wurden.

EuGH 13. 5. 2015, C-392/13, Rabal Cañas

Ausgangsfall

Im vorliegenden, spanischen Ausgangsfall war das Dienstverhältnis des klagenden Arbeitnehmers (so wie von 12 weiteren Dienstnehmern) im Dezember 2012 vom Arbeitgeber wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage des Unternehmens aufgelöst worden; der Betrieb in Barcelona, in dem der Arbeitnehmer beschäftigt war (mit ursprünglich 20 Arbeitnehmern), wurde zur Gänze geschlossen und das übrige Personal in den größeren Betrieb nach Madrid (mit ursprünglich 164 Arbeitnehmern) verlagert. Bereits in den vorangegangenen Monaten waren - sowohl für Barcelona als auch für Madrid - jeweils mehrere Kündigungen ausgesprochen worden und im Oktober und November 2012 hatten einige befristete Arbeitsverträge geendet, die abgeschlossen worden waren, um einen Produktionsanstieg zu bewältigen.

In seiner Kündigungsanfechtung machte der Arbeitnehmer geltend, dass die Kündigung nichtig sei, weil der Arbeitgeber das zwingende Verfahren für Massenentlassungen nach der RL 98/59/EG in betrügerischer Weise umgangen habe.

Maßgebliche unionsrechtliche Vorschriften:

Nach der Definition des Art 1 Abs 1 Buchst a der RL 98/59/EG (MassenentlassungsRL) sind Massenentlassungen „Entlassungen, die ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, vornimmt“ und bei denen - nach Wahl der Mitgliedstaaten - die Zahl der Entlassungen innerhalb bestimmter Zeiträume (30 oder 90 Tage) in der RL näher festgelegte Schwellenwerte überschreitet.

Gem Art 1 Abs 2 Buchst a der RL 98/59/EG findet diese Richtlinie keine Anwendung auf „Massenentlassungen im Rahmen von Arbeitsverträgen, die für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit geschlossen werden, es sei denn, dass diese Entlassungen vor Ablauf oder Erfüllung dieser Verträge erfolgen“.

Entscheidung

Befristete Dienstverhältnisse immer ausgenommen

Das vorlegende Gericht möchte ua wissen, ob für die Feststellung des Vorliegens von Massenentlassungen auch der Ablauf befristeter Dienstverhältnisse zu berücksichtigen ist (dh die „individuelle Beendigung von Arbeitsverträgen, die für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit geschlossen werden, wenn diese Beendigungen bei Ablauf des Arbeitsvertrags oder Erfüllung der Tätigkeit erfolgen“). Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts habe der Unionsgesetzgeber mit der Verwendung des Ausdrucks „Massenentlassungen“ im Umkehrschluss die Möglichkeit offengelassen, in den Begriff „Massenentlassungen“ auch individuelle Beendigungen von Verträgen einzubeziehen.

Diesen Umkehrschluss hält der EuGH für nicht richtig und hält dazu fest, dass sich aus dem Wortlaut und der Systematik der RL 98/59/EG eindeutig der Ausschluss der individuellen Beendigungen von Arbeitsverträgen ergibt, die für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit geschlossen werden. Solche Verträge enden - so der EuGH - nämlich nicht auf Initiative des Arbeitgebers, sondern aufgrund der Klauseln, die sie enthalten, oder aufgrund des anwendbaren Gesetzes zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ablaufen oder zu dem die Tätigkeit erfüllt ist, für die sie geschlossen wurden. Daher wäre es unzweckmäßig, die in den Art 2 bis 4 der RL 98/59/EG vorgesehenen Verfahren zu befolgen. Insbesondere das Ziel, Entlassungen zu vermeiden oder ihre Zahl zu beschränken sowie nach Möglichkeiten zu suchen, ihre Folgen zu mildern, könne bei derartigen befristeten Dienstverhältnissen nicht erreicht werden.

Zum Argument des vorlegenden Gerichts, dass eine Einbeziehung der befristeten Arbeitsverträge in den Anwendungsbereich der RL sinnvoll wäre, um ihre Berechtigung prüfen zu können, verweist der EuGH auf andere spezifische Rechtstexte, insb die RL 2002/14/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft und die RL 1999/70/EG zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge.

Keine weitere Einschränkung der RL

Weiters wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob Art 1 Abs 2 Buchst a der RL 98/59/EG, der vom Anwendungsbereich der RL Massenentlassungen im Rahmen von Arbeitsverträgen ausnimmt, die für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit geschlossen würden, in dem Sinne auszulegen sei, dass diese Ausnahme ausschließlich durch das rein quantitative Kriterium in Art 1 Abs 1 Unterabs 1 Buchst a RL 98/59/EG definiert werde, oder ob sie voraussetze, dass sich der Grund für die kollektive Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus demselben Rahmen der kollektiven Einstellung für die gleiche Dauer oder die gleiche Leistung ergebe.

Dazu stellt der EuGH fest, dass der Begriff „Massenentlassungen“, wie aus der einleitenden Formulierung von Art 1 RL 98/59/EG hervorgeht, für die Durchführung dieser RL insgesamt definiert wird, einschließlich der Durchführung ihres Art 1 Abs 2 Buchst a. Die begehrte Auslegung dieser Bestimmung wäre daher geeignet, auch den Anwendungsbereich der RL 98/59/EG zu beschränken.

In Art 1 Abs 1 Unterabs 1 Buchst a der RL 98/59/EG hat der Gesetzgeber indessen nur ein einziges qualitatives Kriterium benutzt, nämlich das Kriterium, wonach der Grund für die Entlassung „nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen“ darf. Er hat keine weiteren Anforderungen in Bezug auf die Entstehung des Arbeitsverhältnisses oder dessen Beendigung vorgesehen.

Solche Anforderungen wären, weil sie den Anwendungsbereich der RL beschränken, geeignet, das Ziel der RL zu beeinträchtigen, das im Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen besteht.

Mithin können Anforderungen wie die in der vorliegenden Frage genannten nach Ansicht des EuGH nicht als gerechtfertigt für die Zwecke der Anwendung von Art 1 Abs 2 Buchst a der RL 98/59/EG angesehen werden.

„Betrieb“ oder „Unternehmen“?

Bereits vor Kurzem hat der EuGH klargestellt, dass die Mitgliedstaaten an die autonome und einheitliche Auslegung des unionsrechtlichen Begriffs „Betrieb“ in Art 1 Abs 1 Unterabs 1 Buchst a RL 98/59/EG gebunden sind und diese Definition es erfordert, die Entlassungen in jedem Betrieb für sich genommen zu berücksichtigen; ebenfalls festgehalten hat der EuGH in diesen Urteilen, dass die Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art 5 RL 98/59/EG die Möglichkeit haben, für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zu erlassen (vgl EuGH 30. 4. 2015, C-80/14, USDAW und Wilson, LN Rechtsnews 19431 vom 5. 5. 2015, und EuGH 13. 5. 2015, C-182/13, Lyttle ua, JNR 102012).

Über eine weitere Frage des vorlegenden Gerichts hat sich der EuGH hier nun damit zu beschäftigen, ob - im Hinblick auf die Möglichkeit für günstigere nationale Vorschriften gem Art 5 RL 98/59/EG - die innerstaatliche Umsetzungs- oder Durchführungsvorschrift (wie in Spanien) als Bezugsrahmen für die Berechnung des numerischen Schwellenwerts ausschließlich das „Unternehmen“ als Ganzes bestimmen darf - womit sie allerdings auch die Fälle ausschließt, in denen der in dieser Vorschrift festgelegte numerische Schwellenwert überschritten worden wäre, wenn der „Betrieb“ als Referenzgröße gewählt worden wäre.

Anmerkung: Umfasst ein Unternehmen zB einen Betrieb mit 30 Arbeitnehmern und einen Betrieb mit 120 Arbeitnehmern, wäre nach der RL 98/59/EG der Informations- und Konsultationsmechanismus bereits dann in Gang zu setzen, wenn in dem kleineren Betrieb 10 Arbeitnehmer gekündigt werden. Stellt die nationale Regelung aber grundsätzlich nur auf das Unternehmen ab, wäre der Schwellenwert erst mit 15 Kündigungen erreicht (10 % von insg 150 Arbeitnehmern des gesamten Unternehmens).

Die Ersetzung des Begriffs „Betrieb“ durch den Begriff „Unternehmen“ kann nach Ansicht des EuGH nur dann als für die Arbeitnehmer günstig angesehen werden, wenn es sich dabei um ein ergänzendes Element handelt, das nicht zur Aufgabe oder Verringerung des Schutzes der Arbeitnehmer in dem Fall führt, in dem bei Heranziehung des Betriebsbegriffs die für die Einstufung als „Massenentlassung“ erforderliche Zahl von Entlassungen erreicht ist. Insbesondere wäre eine nationale Regelung somit nur dann mit Art 1 Abs 1 Unterabs 1 Buchst a Z i RL 98/59/EG vereinbar, wenn sie die Anwendung der Informations- und Konsultationspflichten der RL zumindest bei einer Entlassung von 10 Arbeitnehmern in Betrieben mit idR mehr als 20 und weniger als 100 Arbeitnehmern vorsähe.

Diese Pflicht ist unabhängig von den im nationalen Recht aufgestellten zusätzlichen Anforderungen für Unternehmen mit idR weniger als 100 Arbeitnehmern, so der EuGH.

Sieht eine nationale Regelung als einzige Referenzeinheit das Unternehmen und nicht den Betrieb vor, verstößt sie daher nach Ansicht des EuGH gegen Art 1 Abs 1 der RL 98/59/EG, wenn die Anwendung dieses Kriteriums zur Folge hat, dass das Informations- und Konsultationsverfahren der RL vereitelt wird, während die betreffenden Entlassungen als „Massenentlassungen“ iSd Definition in Art 1 Abs 1 Unterabs 1 Buchst a RL 98/59/EG qualifiziert werden müssten, wenn der Betrieb als Referenzeinheit verwendet würde.

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Akten, dass die Entlassungen den Schwellenwert der nationalen Regelung auf der Ebene des aus den beiden Betrieben in Madrid und in Barcelona bestehenden Unternehmens nicht erreichten. Da der Betrieb in Barcelona im fraglichen Zeitraum aber auch nicht mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigte, wurde offenbar keiner der Schwellenwerte des Art 1 Abs 1 Unterabs 1 Buchst a RL 98/59/EG erreicht. Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens verlangt die RL 98/59/EG somit nicht die Anwendung ihres Art 1 Abs 1 Unterabs 1 Buchst a.

Der EuGH hat daher für Recht erkannt

1.Art 1 Abs 1 Unterabs 1 Buchst a der RL 98/59/EG [...] ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die als einzige Referenzeinheit das Unternehmen und nicht den Betrieb vorsieht, wenn die Anwendung dieses Kriteriums zur Folge hat, dass das in den Art 2 bis 4 RL 98/59/EG vorgesehene Informations- und Konsultationsverfahren vereitelt wird, während die betreffenden Entlassungen, wenn der Betrieb als Referenzeinheit verwendet würde, als „Massenentlassungen“ iSd Definition in Art 1 Abs 1 Unterabs 1 Buchst a der RL qualifiziert werden müssten.
2.Art 1 Abs 1 der RL 98/59/EG ist dahin auszulegen, dass für die Feststellung des Vorliegens von „Massenentlassungen“ iS dieser Bestimmung individuelle Beendigungen von Arbeitsverträgen, die für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit geschlossen werden, nicht zu berücksichtigen sind, wenn diese Beendigungen bei Ablauf des Vertrags oder Erfüllung der Tätigkeit erfolgen.
3.Art 1 Abs 2 Buchst a der RL 98/59/EG ist dahin auszulegen, dass es für die Feststellung des Vorliegens von Massenentlassungen im Rahmen von Arbeitsverträgen, die für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit geschlossen werden, nicht erforderlich ist, dass sich der Grund für diese Massenentlassungen aus demselben Rahmen der kollektiven Einstellung für die gleiche Dauer oder Tätigkeit ergibt.

Anmerkung:

In Österreich stellt die relevante Umsetzungsvorschrift des § 45a AMFG durchwegs auf den „Betrieb“ ab, sodass die Ausführungen des EuGH betr günstigere nationale Umsetzung durch Abstellen auf das „Unternehmen“ für die österreichische Rechtslage keine Auswirkungen haben.

Unter „Massenentlassungen“ iSd RL 98/59/EG sind nicht Entlassungen iSd österreichischen arbeitsrechtlichen Terminologie zu verstehen, sondern die Auflösung von Dienstverhältnissen, die ein Arbeitgeber aus einem oder mehreren Gründen, die nicht in der Person der Arbeitnehmer liegen, vornimmt.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 19527 vom 20.05.2015