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Deutsches Mindestlohngesetz: § 20
§ 20 des deutschen Mindestlohngesetzes (MiLoG) verpflichtet alle Arbeitgeber mit Sitz im In- oder Ausland, ihren in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern ein Arbeitsentgelt iHv mindestens € 8,50 brutto je Zeitstunde zu bezahlen. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich dabei um eine Eingriffsnorm iSd Art 9 Abs 1 Rom I-VO handelt, ist das deutsche MiLoG nicht auf den Fall anzuwenden, dass ein Arbeitnehmer für einen in Österreich ansässigen Arbeitgeber Personen vom Großraum Salzburg zum Flughafen München transportiert und dabei vorübergehend in Deutschland tätig ist:
Während die Nichtanwendung des MiLoG für den Arbeitnehmer einen um € 0,36 geringeren Stundenlohn zu Folge hat, wären die Folgen einer Anwendung des MiLoG für den Arbeitgeber angesichts der umfassenden Melde- und Dokumentationspflichten gravierend, sodass es unter Berücksichtigung von Art und Zweck der Bestimmungen der §§ 1, 20 MiLoG gerechtfertigt erscheint, diesen Bestimmungen im vorliegenden Fall keine Wirkung iSd Art 9 Abs 3 Satz 2 Rom I-VO zu verleihen. Im vorliegenden Fall ist der Lohn des Arbeitnehmers daher nur nach österreichischem Recht zu beurteilen.
OGH 29. 11. 2016, 9 ObA 53/16h
Zu OLG Linz 12 Ra 2/16z, ARD 6510/7/2016 (Bestätigung)
Entscheidung
Der Kläger war beim beklagten Arbeitgeber mit Sitz in Salzburg als Mietwagenfahrer mit einem Stundenlohn von € 6,98 brutto beschäftigt. Im Zuge seiner Arbeitsleistung war er auch in Deutschland tätig, wenn er Kunden von Salzburg zum Flughafen München und retour chauffierte. Mit seiner Klage begehrt er nun € 125,46 brutto mit der Begründung, dass auf die Arbeitsleistungen in Deutschland ab 1. 1. 2015 das deutsche Mindestlohngesetz (MiLoG) anzuwenden sei (Mindest-Stundenlohn von € 8,50 brutto; § 1 iVm § 20 MiLoG). Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab. Der OGH ließ die ordentliche Revision zur Klärung der Frage zu, unter welchen Voraussetzungen § 20 MiLoG als Eingriffsnorm unabhängig vom österreichischen Arbeitsvertragsstatut zur Anwendung gelangt. Die Revision war jedoch letztlich nicht berechtigt:
Eingriffsnorm – Wirkungsverleihung
In seinen Entscheidungsgründen hält der OGH zunächst fest, dass gem Art 8 Abs 2 der VO (EG) 593/2008 [über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht] (Rom I-VO) auf das vorliegende Arbeitsverhältnis grundsätzlich österreichisches Arbeitsrecht Anwendung findet.
Danach erhob sich die Frage, ob § 1 und § 20 MiLoG als Eingriffsnormen iSd Art 9 Rom I-VO angesehen werden können und daher auf das Arbeitsverhältnis einwirken. Eine Eingriffsnorm ist eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses angesehen wird, dass sie ungeachtet des eigentlich auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen; ob eine Norm internationalen Geltungswillen beansprucht, bestimmt grds der Staat, der die Vorschrift erlässt.
Zwar betrachten die deutsche und die österreichische Lehre (vgl Niksova in ZAS 2016/28, 156) §§ 1, 20 MiLoG als Eingriffsnormen iSd Art 9 Abs 1 Rom I-VO, nach Auseinandersetzung mit Art 9 Abs 3 Rom I-VO und der dort verankerten „Wirkungsverleihung“ stellt der OGH jedoch klar, dass das Gericht auf dieser Grundlage bei seiner Entscheidung, ob den Eingriffsnormen Wirkung zu verleihen ist, Art und Zweck dieser Normen sowie die Folgen berücksichtigen kann, die sich aus ihrer Anwendung oder Nichtanwendung ergeben würden.
Zweck des deutschen Mindestlohns
Zum Zweck des deutschen MiLoG hält der OGH fest:
Der deutsche Gesetzgeber wollte, wie aus den Gesetzesmaterialien hervorgeht, durch die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns Arbeitnehmer vor unangemessen niedrigen Löhnen schützen. Zugleich trage der Mindestlohn dazu bei, dass der Wettbewerb zwischen den Unternehmen nicht zu Lasten der Arbeitnehmer durch die Vereinbarung immer niedrigerer Löhne, sondern um die besseren Produkte und Dienstleistungen stattfinde. Das Fehlen eines Mindestlohns könne ein Anreiz sein, einen Lohnunterbietungswettbewerb zwischen den Unternehmen auch zu Lasten der sozialen Sicherungssysteme zu führen, weil nicht existenzsichernde Arbeitsentgelte durch staatliche Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende „aufgestockt“ werden könnten. Der Mindestlohn schütze damit die finanzielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme.
Der Zweck des deutschen MiLoG, Arbeitnehmer vor unangemessen niedrigen Löhnen zu schützen, betrifft vorrangig Arbeitnehmer, die ständig bzw längerfristig und nicht nur vorübergehend ihre Arbeitstätigkeit in Deutschland verrichten. Denn sie kommen nicht unerheblich mit den deutschen Lebenshaltungskosten in Berührung.
MiLoG im vorliegenden Fall nicht anzuwenden
Der Zweck des deutschen Mindestlohns, die finanzielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme zu schützen, kommt im vorliegenden Fall nicht zum Tragen, weil der Kläger am deutschen sozialen Sicherungssystem nicht teilnimmt.
Dass der Kläger „nicht unerheblich mit den deutschen Lebenshaltungskosten in Berührung kommt“, hat er ebenfalls nicht behauptet.
Außerdem erinnert der OGH daran, dass den Arbeitnehmern in Österreich nach dem jeweiligen Bundeskollektivvertrag für das Personenbeförderungsgewerbe mit Pkw für Arbeiter bzw Angestellte – anders als in Deutschland – Sonderzahlungen zustehen (Urlaubs- und Weihnachtsremuneration). Daher hält der OGH hier auch die Gefahr des Lohndumpings durch österreichische Arbeitgeber in Deutschland für nicht evident. Unter Berücksichtigung der Sonderzahlungen errechnet der OGH für Österreich einen kollektivvertraglichen Stundenlohn iHv € 8,14 brutto, sodass sich der Unterschied zum deutschen Mindeststundenlohn nach dem MiLoG (€ 8,50 brutto) auf 0,36 Cent pro Arbeitsstunde beläuft.
Auf der anderen Seite berücksichtigt der OGH, dass die Folgen der Anwendung des deutschen MiLoG für den beklagten Arbeitgeber mit Sitz in Österreich gravierend sind: Wird ein Arbeitnehmer, wie im Anlassfall, an einzelnen Tagen und kurzfristig mit der teilweisen Verrichtung von Arbeitstätigkeiten in Deutschland betraut, wird der österreichische Arbeitgeber durch die umfassenden Melde- und Dokumentationspflichten gemäß §§ 16, 17 MiLoG beschränkt. Damit wäre unter Umständen – wie im vorliegenden Fall – jede spontane Tätigkeit des Arbeitgebers in Deutschland faktisch unmöglich (zB eine sofortige Taxifahrt nach Anruf eines Kunden von Salzburg nach München). Gemäß § 16 Abs 1 MiLoG müssen Arbeitgeber mit Sitz im Ausland nämlich schon vor Beginn jeder Werk- oder Dienstleistung eine schriftliche Meldung in deutscher Sprache bei der zuständigen Behörde der Zollverwaltung vorlegen, in der ua Name, Beginn, Dauer und Ort der Beschäftigung zu nennen sind. Auch müssen die Aufzeichnung über Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer gem § 17 Abs 1 MiLoG mindestens zwei Jahre aufbewahrt werden (die Erleichterungen durch die Mindestlohndokumentationspflichtenverordnung [MiLoDokV]) kommen im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung).
Die abschließende Abwägung der Folgen für den Arbeitnehmer bzw für den beklagten Arbeitgeber durch Nichtanwendung bzw Anwendung des MiLoG lässt es dem OGH daher unter Berücksichtigung von Art und Zweck der Bestimmungen der §§ 1, 20 MiLoG gerechtfertigt erscheinen, diesen Bestimmungen im vorliegenden Fall keine Wirkung iSd Art 9 Abs 3 Satz 2 Rom I-VO zu verleihen.
Dies führt im Ergebnis dazu, dass §§ 1, 20 MiLoG im Anlassfall auf das Arbeitsverhältnis nicht anzuwenden sind und es nach Art 8 Abs 2 Rom I-VO dabei bleibt, dass der Lohn des Klägers nach österreichischem Recht zu beurteilen ist.
Hinweis: Zu allgemeinen Ausführungen zum deutschen Mindestlohngesetz und den Auswirkungen für Arbeitgeber in Österreich siehe Kochanowski/Schröder in ARD 6485/5/2016.