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Abbruch laufender Geschäftsbeziehungen durch Marktbeherrscher?

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

AEUV: Art 102

KartG 2005: § 5

Im Provisorialverfahren zu diesem Hauptverfahren wurde bereits klargestellt, dass die Verweigerung der Aufnahme von Geschäftsbeziehungen durch ein marktbeherrschendes Unternehmen dann nicht als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu qualifizieren ist, wenn für die Weigerung sachliche Gründe bestehen (16 Ok 1/21i, Rechtsnews 31668). Dabei handelt es sich um einen Grundsatz, der sowohl für das österreichische als auch für das europäische Wettbewerbsrecht gilt.

Auch der Abbruch laufender Geschäftsbeziehungen kann in Ausnahmefällen aus sachlichen Gründen gerechtfertigt sein. Gerechtfertigt ist etwa ein Abbruch aus zwingenden wirtschaftlichen oder technischen Gründen, wie zB der finanziellen Unzuverlässigkeit des Handelspartners oder der mangelnden Qualität seiner Produkte, oder bei schweren, die Vertrauensbasis zerstörenden Vertragsverletzungen. Dabei muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden.

Der Grund für die strengere Behandlung des Abbruchs einer bestehenden Geschäftsverbindung gegenüber dem Unterlassen der Aufnahme einer neuen Geschäftsverbindung liegt darin, dass der Marktbeherrscher mit der ursprünglichen Aufnahme der Vertragsbeziehung eine Abhängigkeits- und Gefährdungssituation seines Vertragspartners mitbegründet hat.

Im vorliegenden Fall besteht die Geschäftsbeziehung zwischen den Verfahrensparteien in dem Umfang, in dem der marktbeherrschenden Antragsgegnerin im Sicherungsverfahren die Lieferverweigerung untersagt wurde. Die Aufnahme der Geschäftsbeziehung beruht sohin – für die Antragstellerin erkennbar – auf einer nur vorläufigen Entscheidung (bis zur Rechtskraft der Entscheidung im Hauptverfahren). Dadurch ist die spezifische Abhängigkeits- und Gefährdungssituation für einen strengeren Maßstab noch nicht voll verwirklicht. Die Antragstellerin wusste, dass die endgültige Entscheidung über die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Aufnahme von Geschäftsbeziehungen mit ihr noch nicht gefallen war und im Hauptverfahren nur bei unveränderten Tatsachen rechtlich gleich auszufallen hat. Im vorliegenden Hauptverfahren ist daher nicht ein substantiell strengerer Prüfungsmaßstab anzulegen als bei der Beurteilung der sachlichen Rechtfertigung der Verweigerung der Aufnahme einer Geschäftsbeziehung.

OGH als KOG 30. 11. 2023, 16 Ok 2/23i

Hinweis:

Im Provisorialverfahren 16 Ok 1/21i, Rechtsnews 31668, wurde die Antragsgegnerin verpflichtet, bis zur Rechtskraft der Entscheidung im Hauptverfahren der Antragstellerin Zugang zu ihrem Webshop zu gewähren und der Antragstellerin den Erwerb von digitalen Mautprodukten zu ermöglichen (jedoch nur für den Eigenbedarf und für die gewerbliche Weiterveräußerung von digitalen Mautprodukten mit einem Gültigkeitsbeginn von weniger als 18 Tagen ab Kauf an Verbraucher). Der Zugang war insb durch Aufhebung der Sperre der Kundenkonten der Antragstellerin zu ermöglichen, die unter bestimmten E-Mail-Adressen für Registrierungen von digitalen Mautprodukten im Webshop angelegt worden waren.

Das Mehrbegehren, der Antragsgegnerin aufzutragen, der Antragstellerin ohne die genannten Beschränkungen Zugang zum Webshop der Antragsgegnerin zu gewähren, wurde abgewiesen.

Entscheidung

Entwicklungen seit dem Sicherungsverfahren

Dass die Antragsgegnerin (vor Einleitung des vorliegenden Verfahrens) die Kundenkonten der Antragstellerin in ihrem Webshop blockierte, nachdem sie von der Nutzung der Kundenkonten zum Zweck der gewerblichen Weiterveräußerung digitaler Mautprodukte der Antragsgegnerin durch die Antragstellerin erfahren hatte, ist – entgegen dem Rekursvorbringen – im vorliegenden Hauptverfahren nicht anders zu beurteilen als in der E 16 Ok 1/21i im Sicherungsverfahren.

Im Provisorialverfahren wurden der Antragsgegnerin sachliche Gründe für die Verweigerung der Aufnahme einer Geschäftsbeziehung nicht zugestanden(16 Ok 1/21i [Rz 48 ff]). Der nun im Hauptverfahren zu beurteilende Sachverhalt unterscheidet sich von den Tatsachen im Provisorialverfahren allerdings dadurch, dass er auch die zeitlichen Entwicklungen nach Beschlussfassung im Provisorialverfahren bis zum Beurteilungszeitpunkt im Hauptverfahren (erstinstanzliche Beschlussfassung im Hauptverfahren) umfasst.

Ausgehend von den nun zu beurteilenden Tatsachen erkannte das ErstG in einer umfassenden Interessenabwägung insgesamt sachliche Gründe, die die gänzliche Lieferverweigerung der Antragsgegnerin gegenüber der Antragstellerin rechtfertigen. Als ausreichende Gründe für die Verweigerung der Belieferung der Antragstellerin über deren „Eigenbedarf“ hinaus erachtete es konkret den Verlust der Vertrauenswürdigkeit der Antragstellerin durch den Widerruf ihrer Unterlassungserklärung, den Verstoß gegen das Weiterveräußerungsverbot gem Punkt 14.1 der ANB der Antragsgegnerin (idF ab 3. 2. 2022), die Verstöße der Antragstellerin gegen das UWG durch eine unzureichende Preisauszeichnung und unzureichende Belehrung über den Entfall des Widerrufsrechts von Verbraucher-Kunden, sowie das Interesse der Antragsgegnerin an der Verhinderung unlauterer Geschäftspraktiken der Antragstellerin zur Hintanhaltung eines eigenen Image-Schadens.

Eine unrichtige rechtliche Beurteilung des ErstG konnte die Antragstellerin im ihrem Rekurs nicht aufzeigen. Zu den Argumenten der Antragstellerin, die lauterkeitsrechtliche Beurteilung des Bestellprozesses auf ihren Webseiten sei nach wie vor unklar, weil die einstweilige Verfügung des HG Wien vom 31. 10. 2022 noch nicht rechtskräftig sei, weist der OGH darauf hin, dass im vorliegenden Verfahren nicht über allfällige Lauterkeitsverstöße der Antragstellerin abzusprechen, sondern zu beurteilen ist, ob die Entwicklungen seit der Beschlussfassung des Kartellgerichts im Sicherungsverfahren (am 1. 2. 2020) eine geänderte Beurteilung gegenüber der E 16 Ok 1/21i nach sich ziehen.

Dabei hat das ErstG nach Ansicht des OGH die gegebenen Umstände zutreffend als ausreichende sachliche Gründe für die Lieferverweigerung (§ 71 Abs 3 AußStrG) beurteilt. Auch im Umfang der im Provisorialverfahren erzwungenen Geschäftsbeziehung ist kein strengerer Maßstab anzulegen (siehe Leitsatz).

Gerechtfertigte Lieferverweigerung

Nach Vorliegen der E 16 Ok 1/21i schränkte die Antragsgegnerin das Weiterveräußerungsverbot in ihren ANB iS dieser Entscheidung ein, hob es jedoch nicht zur Gänze auf. Gegen dieses Weiterveräußerungsverbot verstößt die Antragstellerin, seit sie ihre Vertriebstätigkeit nach Vorliegen der E 16 Ok 1/21i wieder aufnahm, indem sie die digitalen Mautprodukte der Antragsgegnerin auch an Unternehmer sowie an Verbraucher ohne „sofortigen“ Wirksamkeitsbeginn vertreibt. Dass ein solches Verhalten bei der vorliegenden Sachlage, in der es um den organisierten, gewerblichen Weitervertrieb der Produkte der Antragsgegnerin durch die Antragstellerin geht, als gewichtiger Vertrauensbruch gegenüber der Antragsgegnerin und als Beeinträchtigung ihrer legitimen Interessen an der autonomen Gestaltung ihres Vertriebsnetzes (vgl 16 Ok 1/21i [Rz 44]) zu werten ist, liegt auf der Hand und wurde vom ErstG auch zutreffend so gesehen.

Die Unredlichkeit des Verhaltens der Antragstellerin ergibt sich weiters daraus, dass sie ihre Unterlassungserklärung (Schreiben vom 29. 5. 2020) zurücknahm, nachdem der OGH diese Ankündigung eines „geänderten Geschäftsmodells“ (das ua eine Information der Kunden über die von ihr verrechneten Aufschläge enthält) im Provisorialverfahren zu Gunsten der Antragstellerin in seiner Entscheidung berücksichtigt hatte (16 Ok 1/21i [Rz 49, 50]). Ob die Kl ihre einseitig abgegebene Unterlassungserklärung einseitig widerrufen konnte, ist nicht entscheidend. Im vorliegenden Zusammenhang kommt vielmehr dem Umstand Bedeutung zu, dass die Antragstellerin jene Zusagen in ihrem Schreiben vom 29. 5. 2020, an deren verbindlichen Charakter schon aufgrund des Wortlauts keine Zweifel bestehen, pauschal als bloßes Angebot abtut und die übernommene Verpflichtung auch für die Vergangenheit – vor dem Widerruf – schlicht negiert.

Das von der Antragstellerin angekündigte „geänderte Geschäftsmodell“, das im Sicherungsverfahren berücksichtigt wurde, wird durch die (am 17. 3. 2022) geänderten Preisinformationen in den AGB der Antragstellerin nicht umgesetzt, weil sie zwar einen Link zu den Mautgebühren der Antragsgegnerin enthalten, aber die von der Antragstellerin verrechneten Aufschläge nicht – wie in Aussicht gestellt – ausweisen, sondern es weiter den Kunden überlassen, selbst die relevanten Preise gegenüber zu stellen und die Aufschläge der Antragstellerin zu errechnen.

Vor dem Hintergrund der zwischen den Parteien ergangene E 4 Ob 51/23p (= Rechtsnews 34895), mit der die Lauterkeitsverstöße der [hier] Antragstellerin – mit Ausnahme eines einzigen Punkts – bestätigt wurden, kann sich die Antragstellerin im vorliegenden Rekursverfahren auch nicht darauf berufen, sie habe sich bei der Auslegung des Weiterveräußerungsverbots in den ANB der Antragsgegnerin und bei der Gestaltung der Preisinformation und der Belehrung über das Widerrufsrecht für Verbraucher auf ihren eigenen Webseiten auf eine vertretbare Rechtsansicht stützen können.

Das Argument, dass die Antragstellerin die einstweilige Verfügung des HG Wien eingehalten habe, führt nicht zu einer anderen Beurteilung. Das ErstG erachtete nicht den durch den Testkauf am 9. 11. 2022 dokumentierten Verstoß als ausschlaggebend, sondern führte aus, der Antragsgegnerin sei nicht zumutbar, ein Unternehmen mit ihren Produkten zum Weitervertrieb zu beliefern, von dem sie wisse, dass es – zumindest in Österreich – gegen lauterkeitsrechtliche Vorschriften verstoße und die Verstöße erst infolge einer einstweiligen Verfügung abstelle.

Der Rekurs vermag auch nicht darzustellen, dass das ErstG die Interessen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin unzureichend gegeneinander abgewogen und ein unverhältnismäßiges Ergebnis erzielt hätte.

Aus der E 4 Ob 214/97t, RdW 1998, 187, ist für die Antragstellerin nichts zu gewinnen, weil ein abweichender Sachverhalt vorlag. Dem dort strittigen Vertragsverstoß der Abnehmerin kam nicht annähernd ein vergleichbares Gewicht zu wie den Verhaltensweisen der Antragstellerin, die eine Vertrauensbasis nachhaltig verhindern.

Nicht berechtigt ist auch das Argument des Rekurses, es sei unverhältnismäßig, dass der Antragstellerin – ihrer Ansicht nach ausschließlich wegen Verstößen gegen österreichisches Lauterkeitsrecht – ihr Geschäftsmodell in allen Staaten, auf die sie ihren Vertrieb ausrichte, verunmöglicht werde. Zentral für die Rechtfertigung der Lieferverweigerung ist jedoch der Umstand, dass die Antragstellerin den aus der wettbewerbsrechtlichen Rsp des EuGH abgeleiteten Umfang der Lieferverpflichtung der Antragsgegnerin und die Umsetzung dieser Einschränkung in den ANB der Antragsgegnerin grundsätzlich missachtete und gegen die ihr vertraglich auferlegte Beschränkung der Weiterveräußerung in organisierter Weise verstieß. Der Kern der Rechtfertigung der Lieferverweigerung hat daher mit dem österreichischen Lauterkeitsrecht oder einem Verbot, das nur für Binnensachverhalte Geltung beanspruchen könnte, nichts zu tun. Die Beurteilung des ErstG, das eine Lieferverweigerung der Antragsgegnerin (über den Eigenbedarf der Antragstellerin hinaus) als verhältnismäßig ansah, ist daher nicht zu beanstanden.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 35076 vom 15.02.2024