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DBA Deutschland – Niederlande 1959: Art 10 Abs 1
OECD-MA: Art 15 Abs 1 und Abs 2
Abstract
Der in Deutschland wohnhafte Kläger und Revisionskläger war in den Niederlanden beschäftigt. Seine Fahrten führten ihn — abseits von den Niederlanden — nach Deutschland, Belgien, Frankreich und in die Schweiz. Trotz Ansässigkeit in Deutschland besteuerte der niederländische Fiskus aufgrund der Beschäftigung in den Niederlanden den gesamten Arbeitslohn des Klägers. Das FA rügte, dass den Niederlanden nach dem DBA Deutschland – Niederlande 1959 lediglich für die Teile des Arbeitslohnes das Besteuerungsrecht zukomme, die auf Tage entfielen, an denen der Kläger eine ausschließlich durch die Niederlande führende Fahrtstrecke zurückgelegt hatte. Der BFH hatte sich sohin mit der Aufteilung des Besteuerungsrechts an Bezügen eines grenzüberschreitend tätigen Berufskraftfahrers auseinanderzusetzen.
BFH 1. 6. 2022, I R 45/18
Sachverhalt
Der in Deutschland (DE) wohnhafte Kläger und spätere Revisionskläger (im Folgenden: Kl) war 2013 und 2014 bei einem niederländischen Arbeitgeber als Berufskraftfahrer tätig. Seine Fahrten führten ihn durch Belgien, Deutschland, die Niederlande, Frankreich und die Schweiz. Nach dem „Fahrtenbuch“ des Kl war er im Jahr 2013 an 130 von 219 Tagen und im Jahr 2014 an 102 von 228 Tagen sowohl in DE als auch in den Niederlanden unterwegs; wie viele Stunden und wo der Kl jeweils tätig war, ging aus dem Fahrtenbuch nicht hervor. In den Niederlanden wurde jedoch der gesamte Arbeitslohn des Kl besteuert. Das FA sah das Besteuerungsrecht der Niederlande demgegenüber nur für den Teil des Arbeitslohns als gegeben an, der auf jene Tage entfiel, an denen der Kl eine ausschließlich durch die Niederlande führende Fahrtstrecke zurückgelegt hatte. Das Besteuerungsrecht für den Arbeitslohn, der hingegen auf ausschließlich außerhalb der Niederlande zurückgelegte Fahrtstrecken entfiel, stehe ausschließlich DE zu. Der Kl erwiderte, dass das Besteuerungsrecht für jene Tage, an denen er zumindest einen Teil der Fahrtstrecke zurückgelegt hatte, ausschließlich den Niederlanden zustünde. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg, weshalb der Kl Revision erhoben hat.
Entscheidung des BFH
Der Kl ist gem § 1 Abs 1 dEStG (entspricht § 1 Abs 2 öEStG) aufgrund seines Wohnsitzes in DE mit seinem Welteinkommen unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Infolge der Tätigkeit als Berufskraftfahrer erzielte er Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit (§ 2 Abs 1 Z 4 iVm § 19 dEStG, entspricht § 2 Abs 3 Z 4 iVm § 25 öEStG).
Im Verhältnis zu den Niederlanden richtet sich das Besteuerungsrecht an den besagten Einkünften im Zeitraum 2013 bis 2014 nach dem DBA Deutschland - Niederlande 1959. Das derzeit in Geltung befindliche DBA Deutschland - Niederlande 2012 war für die Streitzeiträume noch nicht anwendbar. Die einschlägige Verteilungsnorm des Art 10 DBA Deutschland – Niederlande 1959 weicht dabei inhaltlich nicht von den Grundsätzen der aktuellen Fassung von Art 15 OECD-MA 2017 ab: Einkünfte aus nichtselbstständiger Tätigkeit werden im Ansässigkeitsstaat besteuert, es sei denn, der Steuerpflichtige übt seine Tätigkeit im anderen Staat aus. Der BFH hält dazu fest, dass ein Berufskraftfahrer dort tätig wird, wo er sich mit dem ihm anvertrauten Fahrzeug jeweils physisch aufhält. Dabei verweist der BFH auf bereits ergangene Rsp, wonach das Arbeitsentgelt von Berufskraftfahrern auf ihre jeweiligen Tätigkeitsorte aufzuteilen ist (BFH 9. 1. 1986, I R 22/85 und BFH 31. 3. 2004, I R 88/03). Nachdem eine Aufzeichnung über die exakte Arbeitszeit in den jeweiligen Staaten nicht vorlag, befand der BFH unter Verweis auf einhellige Zustimmung im Schrifttum (vgl Mick in Wassermeyer, Niederlande Art 10 Rz 23 [Stand: Juli 2009]; Wassermeyer/Schwenke in Wassermeyer, MA Art 15 Rz 146) – bei Arbeitstagen mit Fahrten sowohl in den Niederlanden als auch außerhalb – eine hälftige Teilung für angemessen.
Im Verhältnis zu anderen Staaten als den Niederlanden, in denen der Kl im Zuge des Lastkraftfahrens tätig war, ist — so der BFH — die 183 Tage-Regelung iSd Art 15 Abs 2 OECD-MA anzuwenden. Demzufolge steht dem Ansässigkeitsstaat das alleinige Besteuerungsrecht an Arbeitsentgelten zu, wenn sich der Empfänger nicht mehr als 183 Tage im jeweiligen Kalenderjahr (Belgien, Schweiz) bzw Steuerjahr (Frankreich) im jeweiligen Staat aufhält, sofern der Arbeitgeber in dem Staat nicht ansässig ist bzw die Vergütungen nicht von einer dort belegenen Betriebsstätte oder festen Einrichtung getragen werden. Da sohin keinem der Staaten ein Quellenbesteuerungsrecht zugewiesen wurde, kommt DE an jenen Tagen, an denen sich der Kl durchgehend außerhalb der Niederlande aufgehalten hat, das alleinige Besteuerungsrecht zu.
Conclusio
Die Entscheidung des BFH ist völlig überzeugend, bestätigt die hgRsp zur Auslegung von Art 15 OECD-MA und entspricht ständiger Staatenpraxis. Die Brisanz des vorliegenden Falles liegt zweifelsfrei in dem Umstand, dass die Niederlande den gesamten Arbeitslohn des Kl lediglich aufgrund der Ansässigkeit des Arbeitgebers in den Niederlanden besteuert haben (s Art 15 Abs 2 lit b OECD-MA): Als Tätigkeitsstaat wäre den Niederlanden nur das Besteuerungsrecht auf tatsächlich dort physisch ausgeübte Arbeit zugekommen. An Bezugsteilen, die sowohl auf in DE als auch auf in Drittstaaten (Belgien, Frankreich und Schweiz) ausgeübte Arbeit entfielen, wäre — zumindest im Verhältnis Deutschland-Niederlande — DE als Ansässigkeitsstaat das alleinige Besteuerungsrecht zugestanden. Wie der BFH aber zutreffend hervorgehoben hat, steht DE auch gegenüber den genannten Drittstaaten das ausschließliche Besteuerungsrecht zu, weil sich der Kl nach Art 15 Abs 2 lit a OECD-MA weder in Belgien noch in Frankreich und der Schweiz mehr als 183 Tage aufgehalten hat.
Im Ergebnis verursacht die volle Besteuerung der Bezüge in den Niederlanden eine Situation der juristischen Doppelbesteuerung, die auch DE als Ansässigkeitsstaat nicht vollends auflösen kann. DE ist nämlich nach Art 20 Abs 2 des hier anwendbaren DBA nur zur Befreiung verpflichtet, soweit „die Niederlande ein Besteuerungsrecht haben“. Nachdem den Niederlanden bloß ein Besteuerungsrecht an der dort ausgeübten Tätigkeit zufällt, bleibt der Kl durch die in den Niederlanden erhobene Steuer auf die in DE steuerbaren Einkünfte doppelt belastet. Wie der BFH zu Recht hervorhebt, lässt sich diese Doppelbesteuerung nur im Wege eines Verständigungsverfahrens beseitigen.