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7. ZP-EMRK: Art 4
Nach der Rsp des EGMR wird das Doppelbestrafungsverbot nicht verletzt, wenn zwischen zwei Verfahren eine „ausreichend enge Verbindung in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht“ besteht. Für ein sozialschädliches Verhalten können „komplementäre rechtliche Reaktionen“ in verschiedenen Verfahren vorgesehen werden, die ein zusammenhängendes Ganzes bilden, um unterschiedliche Aspekte des betreffenden sozialen Problems anzusprechen. Die kumulierten rechtlichen Antworten dürfen allerdings keine exzessive Last für das betroffene Individuum darstellen, beide Verfahren müssen als Folge des strafbaren Verhaltens vorhersehbar sein und Doppelgleisigkeiten bei der Sammlung und Würdigung von Beweisen müssen (insbesondere durch Interaktion zwischen den Behörden) vermieden werden.
Wurde wegen verbotener Absprachen in einem Vergabeverfahren ein Strafverfahren gegen einen Bieter mit Diversion beendet, verstößt das gegen diesen (sogar teilweise parallel) geführte Kartellverfahren nicht gegen das Doppelbestrafungsverbot, wenn dort aufgrund der Diversion nur mehr die Feststellung der Zuwiderhandlung begehrt wird. § 168b StGB und die kartellrechtlichen Sanktionen des KartG 2005 adressieren unterschiedliche Aspekte desselben „sozialen Problems“ („different aspects of the social misconduct“), nämlich § 168b StGB die zumindest potenziell gefährdeten Vermögensinteressen des Auftraggebers im Vergabeverfahren und das KartG die gefährdete Wettbewerbsordnung. Weiters erfordert § 168b StGB Vorsatz, während für eine Sanktion nach §§ 28 f KartG Fahrlässigkeit genügt. Dafür, dass die kartellrechtliche Feststellung nach § 28 KartG 2005 im Vergleich zur Diversion eine komplementäre Reaktion ist, spricht auch, dass Letzterer keine Bindungswirkung in einem nachfolgenden Zivilprozess zukommt. Die Feststellung nach § 28 KartG hat daher für die Durchsetzung zivilrechtlicher Ersatzansprüche eines durch die wettbewerbsbeschränkende Abrede geschädigten Dritten besondere Bedeutung.
Die „kumulierten rechtlichen Antworten“ des § 168b StGB und des § 28 KartG stellen jedenfalls im vorliegenden Fall auch keine übermäßige Last („excessive burden“) für die Antragsgegnerin dar. Im Strafverfahren erfolgte aufgrund der Diversion keine förmliche Sanktionierung ihres Verhaltens, was die Antragstellerin im Kartellverfahren veranlasste, von der Verhängung einer Geldbuße abzusehen und nur mehr die Feststellung der Zuwiderhandlung zu begehren. Dies entspricht der in der Lit vorgeschlagenen Vorgehensweise, im Fall einer Verurteilung nach § 168b StGB (die hier ohnehin nicht erfolgte) die Geldbuße im Kartellverfahren „mit Null zu bemessen“, weil diese weder aus spezial- noch aus generalpräventiven Gründen geboten sei.
OGH als KOG 17. 5. 2024, 16 Ok 5/23f
Entscheidung
Ob das vorliegende Kartellverfahren, in dem die Antragstellerin zuletzt nur mehr die Feststellung einer Zuwiderhandlung gem § 28 KartG anstrebte, gegen den Grundsatz ne bis in idem verstößt, ist anhand von Art 4 7. ZP-EMRK und der dazu ergangenen Rsp des EGMR zu beurteilen. Das KartG enthält dazu keine Regelungen. § 17 StPO regelt nur die Frage der Zulässigkeit der Einleitung eines weiteren Strafverfahrens iSd StPO und ist daher nicht anzuwenden. Auch die Art 50 GRC und Art 54 SDÜ sind auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar.
Entsprechend der Auslegung des Art 4 7. ZP-EMRK durch den EGMR in der Rs Mihalache spricht nach Ansicht des Senats vieles dafür, der diversionellen Erledigung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens keine Sperrwirkung nach Art 4 7. ZP-EMRK zuzugestehen. Dafür spricht va, dass die Staatsanwaltschaft keine allgemeine Sanktionsbefugnis hat, die diversionelle Erledigung nach ihrer Ausgestaltung durch die StPO keine förmliche Sanktionierung darstellt, die Erbringung diversioneller Leistungen auf Freiwilligkeit beruht und der Verfahrensbeendigung durch Diversion keine Bindungswirkung für nachfolgende Zivilprozesse zukommt. Jene Entscheidungen des VwGH und des OGH, die diversionellen Erledigungen eine Sperrwirkung zuerkannten (und überhaupt zu Art 4 7. ZP-EMRK ergingen), stehen dieser Beurteilung schon deshalb nicht entgegen, weil die Entscheidung des EGMR in der Rs Mihalache darin noch nicht berücksichtigt werden konnte.
Soweit die Lit darauf hinweist, dass der EGMR seine Erwägungen zu einem „integrierten Ansatz“ nur auf den „Randbereich des ne bis in idem-Grundsatzes“ bezogen habe, nämlich auf verwaltungsrechtliche Sanktionen (Dannecker, Ne bis in idem und das Verbot straf- und kartellrechtlicher Parallelverfahren [2021] 29), trifft dies auch auf die Feststellung der Zuwiderhandlung nach § 28 KartG wie hier zu.
Sämtliche rechtlichen Konsequenzen der Submissionsabsprachen der Antragsgegnerin (also sowohl eine Verfolgung nach § 168b StGB als auch Sanktionen nach dem KartG) waren für diese zweifellos auch iSd Rsp des EGMR vorhersehbar .
Dem Erfordernis einer „ausreichend engen zeitlichen Verbindung“ beider Verfahren wurde hier ebenfalls entsprochen, wurden diese doch sogar teilweise parallel geführt.
Hinsichtlich der vom EGMR geforderten Vermeidung von „Doppelgleisigkeiten“ bei der Sammlung und Würdigung von Beweisen erlauben die gesetzlichen Grundlagen im Strafverfahren und Kartellverfahren insgesamt eine angemessene Interaktion zwischen den Behörden iSd Rsp des EGMR (vgl va Art 22 B-VG, § 76 Abs 1 StPO und § 10 Abs 1a WettbG).
Im vorliegenden Fall wurden die Ermittlungen der Bundeswettbewerbsbehörde erst durch die Mitteilung der Staatsanwaltschaft ausgelöst, die gegen die Antragsgegnerin Ermittlungen wegen § 168b StGB führte. Die Staatsanwaltschaft verständigte die BWB auch von ihrem Rücktritt von der Verfolgung der Antragsgegnerin. Die Diversion – von der das Kartellgericht ebenfalls verständigt wurde – wurde im Kartellverfahren dadurch berücksichtigt, dass die BWB nur mehr die Feststellung der Zuwiderhandlung der Antragsgegnerin gem § 28 KartG begehrte. Somit erfolgte auch im konkreten Fall eine „angemessene Interaktion“ zwischen den Behörden.