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EuG: Fehlerhafte Einstufung eines Steuervorbescheids als „neue Beihilfe“

Bearbeiter: Bence Komár

AEUV: Art 107, 108, 263

VO (EG) 659/1999 (nicht mehr in Kraft): Art 1 lit c

VO (EU) 2015/1589 (in Kraft): Art 1 lit c

Abstract

Die spanische Steuerverwaltung erließ 2012 einen Steuervorbescheid, in welchem sie die Ansicht äußerte, dass die Firmenwertabschreibung nach spanischem Körperschaftsteuerrecht (§ 12 Abs 5 sKStG) auch indirekte Beteiligungserwerbe erfasst. Nach spanischer Verwaltungspraxis war diese Regelung davor ausschließlich auf direkte Erwerbe angewendet worden. Nach Ansicht der Europäischen Kommission hätte der Steuervorbescheid den Anwendungsbereich des § 12 Abs 5 sKStG erweitert und sei somit unter Verletzung des Art 108 Abs 3 AEUV durchgeführt worden. Im vorliegenden Beihilfenverfahren gelang es den Klägerinnen das Gegenteil zu beweisen.

EuG 27. 9. 2023, T-12/15, T-158/15 und T-258/15, Banco Santander und Santusa/Kommission

Sachverhalt

Die Europäische Kommission („Kommission“) erließ in den Jahren 2009 und 2011 zwei Entscheidungen („Ursprungsrechtsakte“). Durch diese stufte sie Art 12 Abs 5 des spanischen Körperschaftsteuergesetzes („sKStG“) als unzulässige Beihilfe gem Art 107 Abs 1 AEUV ein. Die Kommission forderte Spanien auf, die gewährten Beihilfen zurückzufordern. Allerdings erkannte sie ein berechtigtes Vertrauen bestimmter Beihilfenempfänger und sah für sie eine Ausnahme von der Rückforderung vor.

Art 12 Abs 5 sKStG ist eine Regelung über die Firmenwertabschreibung, die bei Beteiligungserwerben angewendet werden kann, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Nach damaliger spanischer Verwaltungspraxis waren nur direkte Erwerbe von der Regelung erfasst. 2012 erließ die Steuerverwaltung Spaniens einen Steuervorbescheid, in dem sie ihre neue Ansicht äußerte, dass auch indirekte Erwerbe von der leg cit erfasst sind. Daraufhin erließ die Kommission den angefochtenen Beschluss. In diesem stufte sie die behördliche Auslegung basierend auf dem Steuervorbescheid als „neue Beihilfe“ iSd Art 108 Abs 3 AEUV iVm Art 1 lit c VO (EG) 659/1999 (vgl Art 1 lit c VO [EU] 2015/1589) ein. Sie forderte Spanien auf, alle für indirekte Erwerbe gewährten Beihilfen ausnahmslos zurückzufordern. Die Klägerinnen beantragten beim EuG den angefochtenen Beschluss gem Art 263 AEUV für nichtig zu erklären. Begründend führten sie aus, dass die Kommission den neuen Beschluss nicht hätte erlassen dürfen, weil die indirekten Erwerbe, ihrer Meinung nach, bereits von den Ursprungsrechtsakten erfasst waren.

Entscheidung des EuG

Das EuG hielt zunächst fest, dass die Ursprungsrechtsakte keinen Verweis auf die bis 2012 gelebte Verwaltungspraxis enthielten, wonach die streitgegenständliche spanische Gesetzesbestimmung nur auf direkte Beteiligungserwerbe anwendbar war. Zweitens konnte der Anwendungsbereich der Norm durch den Steuervorbescheid nicht erweitert werden. Eine behördliche Auslegung war nach spanischem Recht gegenüber dem Steuerpflichtigen nicht bindend. Es oblag in erster Linie dem Gesetzgeber oder, im Fall von Zweifeln oder im Streitfall den Gerichten, den Anwendungsbereich einer Rechtsvorschrift festzustellen. In keinem Fall oblag dies der Steuerverwaltung. Drittens waren die Steuerschulden in der weit überwiegenden Zahl der Fälle Gegenstand einer Selbstveranlagung ohne behördliche Kontrolle. Ob Unternehmen die Firmenwertabschreibung auf indirekte Erwerbe angewendet hatten, war von dem Steuervorbescheid 2012 völlig unabhängig (EuG 27. 9. 2023, T-12/15, T-158/15 und T-258/15, Banco Santander und Santusa/Kommission mVa EuG 15. 11. 2018, T-207/10, Deutsche Telekom/Kommission, Rn 21–32). Das EuG stellte im Ergebnis fest, dass die Ursprungsrechtsakte sowohl den direkten als auch den indirekten Beteiligungserwerb regelten.

Da die Ursprungsrechtsakte indirekte Erwerbe bereits miterfassten, stellte der angefochtene Beschluss einen Widerruf der, an sich rechtmäßigen, Ursprungsrechtsakte dar. Denn sowohl die Ursprungsrechtsakte als auch der angefochtene Beschluss stuften Art 12 Abs 5 sKStG als unzulässige Beihilfe ein und verpflichteten Spanien zur Rückforderung der gewährten Beihilfen. Während die Ursprungsrechtsakte jedoch eine Ausnahme von der Rückforderung für bestimmte schutzwürdige Unternehmen vorsahen, ordnete der angefochtene Beschluss die Rückforderung sämtlicher Beihilfen an. Der rückwirkende Widerruf der rechtmäßigen Ursprungsrechtakte verstößt nach stRsp gegen allgemeine Rechtsgrundsätze (EuGH 22. 3. 1961, C-42/59 und 49/59, SNUPAT/Hohe Behörde, Slg S 162; 22. 9. 1983, C-159/82, Verli-Wallace/Kommission, Rn 8 und EuG 12. 2. 2020, T-605/18, ZF/Kommission, Rn 138) – im vorliegenden Fall insb gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit und Vertrauensschutz (EuG 27. 9. 2023, T-12/15, T-158/15 und T-258/15, Banco Santander und Santusa/Kommission, Rz 87). Somit war der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären.

Conclusio

Aus den Ursprungsrechtsakten ging hervor, dass die Kommission hier die Regelung von Art 12 Abs 5 sKStG als Beihilfenregelung in ihrer Gesamtheit untersuchte. Die neue behördliche Auslegung, welche nach den Ursprungsrechtsakten erlassen wurde, erweiterte den Anwendungsbereich der leg cit nicht. Die Erlassung des angefochtenen Beschlusses stellte daher einen Widerruf der rechtmäßigen Ursprungsrechtsakte dar, soweit sie den indirekten Erwerb regelten. Nach stRsp verstößt der rückwirkende Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsakts, durch den subjektive Rechte eingeräumt wurden, gegen allgemeine Rechtsgrundsätze (EuGH 22. 3. 1961, C-42/59 und 49/59, SNUPAT/Hohe Behörde, Slg S 162; 22. 9. 1983, C-159/82, Verli-Wallace/Kommission, Rn 8 und EuG 12. 2. 2020, T-605/18, ZF/Kommission, Rn 138). Die Ursprungsrechtsakte verliehen Spanien ein subjektives Recht, die betreffende Beihilfenregelung in bestimmten Fällen durchführen zu können, obwohl sie an sich unzulässig war. Davon abgeleitet wurde bestimmten Beihilfenempfängern das subjektive Recht verliehen, rechtswidrige Beihilfen nicht zurückzahlen zu müssen. Im Ergebnis griff der angefochtene Beschluss in den Grundsatz der Rechtssicherheit ein und stellte gleichzeitig das berechtigte Vertrauen in Frage, das die spanischen Behörden und die betroffenen Beihilfenempfänger aus den Ursprungsrechtsakten hinsichtlich deren Anwendbarkeit auf den indirekten Erwerb ziehen konnten.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 35175 vom 12.03.2024