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EuGH: Anwendbarkeit der Fusionsrichtlinie auf reine Inlandssachverhalte

Bearbeiter: Bence Komár

RL 2009/133/EG (FusionsRL): Art 1 lit a, Art 8 Abs 2

Abstract

Der EuGH entschied, dass die Begünstigung des Art 8 Abs 2 RL 2009/133/EG (FusionsRL) nicht von zusätzlichen Anforderungen abhängig gemacht werden kann, die nicht in der FusionsRL selbst festgelegt sind. Dem vorgelagert war die Frage zu beantworten, ob die FusionsRL auch auf reine Inlandssachverhalte anwendbar sein kann, wenn das anwendbare nationale Gesetz zwischen grenzüberschreitenden und inländischen Sachverhalten nicht unterscheidet und gleichzeitig ausdrücklich bestimmt, dass dieses Gesetz (ua) der Umsetzung der FusionsRL dient.

EuGH 16. 11. 2023, C-318/22, GE Infrastructure

Sachverhalt

Die Klägerin im Ausgangsverfahren (GE Infrastructure) war an GE Hungary zu 100 % beteiligt. GE Hungary war wiederum an GE Aviation zu 100 % beteiligt. Alle Gesellschaften waren in Ungarn ansässig. Im Jahr 2017 erfolgte eine Gesamtumstrukturierung des Konzerns, in deren Rahmen zwei Teilbetriebe von GE Hungary an GE Aviation übertragen wurden. GE Infrastructure als Gesellschafterin der einbringenden GE Hungary erhielt im Gegenzug eine Beteiligung an GE Aviation. Die erworbene Beteiligung entsprach dem Wert der übertragenen Teilbetriebe. Das Gesellschaftskapital von GE Hungary blieb nach der Übertragung (Abspaltung) unverändert und die Gesellschaft blieb weiterhin zu 100 % im Eigentum von GE Infrastructure. Letztere war der Ansicht, dass die Abspaltung unter die Begünstigung des § 7 Abs 1 lit gy ungarisches Körperschaftsteuergesetz (uKStG) und Art 8 Abs 2 FusionsRL fällt und dass aus der Abspaltung keine Steuerpflicht entstehen kann. Die Steuerverwaltung argumentierte demgegenüber, dass der Vorgang auf Ebene der GE Infrastructure zu einem steuerpflichtigen Ertrag in Höhe des Buchwerts der erworbenen Beteiligung an GE Aviation führte. Ein Aufschub der Besteuerung gem § 7 Abs 1 lit gy uKStG könne nicht in Anspruch genommen werden, weil die Abspaltung nicht zu einer Verringerung des Gesellschaftskapitals von GE Hungary führte und diese Gesellschaft zu 100 % im Eigentum von GE Infrastructure verblieb. Die FusionsRL sei im Übrigen nicht anwendbar, weil diese nur Abspaltungen regelt, an denen Gesellschaften aus mindestens zwei Mitgliedstaaten beteiligt sind. Das vorlegende ungarische Gericht wollte zunächst wissen, ob Art 1 lit a FusionsRL den Mitgliedstaaten verwehrt, innerstaatliche mit grenzüberschreitenden Vorgängen gleich zu behandeln, indem in den Umsetzungsvorschriften nicht zwischen diesen beiden Kategorien unterschieden wird. Danach richtete es zwei Folgefragen an den EuGH, die sich damit auseinandersetzen, ob § 7 Abs 1 lit gy uKStG in seiner Auslegung durch die Steuerverwaltung mit Art 8 Abs 2 FusionsRL vereinbar ist.

Entscheidung des EuGH

Art 1 lit a FusionsRL sieht vor, dass Abspaltungen in ihren Anwendungsbereich fallen, wenn daran Gesellschaften aus zwei oder mehr Mitgliedstaaten beteiligt sind. Zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage war zu klären, ob der EuGH gem Art 267 AEUV für die Auslegung der FusionsRL zuständig ist, wenn sich der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung der RL dafür entschieden hat, Inlandssachverhalte und Sachverhalte, die unter Art 1 lit b FusionsRL fallen, gleich zu behandeln. Der EuGH weist darauf hin, dass es dem nationalen Gesetzgeber freisteht, sich zur Regelung von Inlandssachverhalten nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen zu richten. Dann besteht jedoch aus Sicht des Unionsrechts ein klares Interesse daran, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen einheitlich ausgelegt werden, unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden (vgl EuGH 18. 10. 1990, C-297/88 und C-197/89, Dzodzi, Rn 37; 17. 7. 1997, C-28/95, Leur-Bloem, Rn 32). Dem vorgelagert ist die Frage, ob der nationale Gesetzgeber die Anwendung des Unionsrechts auf rein innerstaatliche Sachverhalte tatsächlich vorgesehen hat. Ob dies der Fall ist, haben ausschließlich die nationalen Gerichte zu entscheiden (ebenso EuGH 18. 10. 1990, C-297/88 und C-197/89, Dzodzi, Rn 41; 17. 7. 1997, C-28/95, LeurBloem, Rn 33).

Die Folgefragen behandelte der EuGH zusammen. Strittig war, ob die Anwendung des Art 8 Abs 2 FusionsRL bei Abspaltungen von der Verringerung der Beteiligung des Gesellschafters an der einbringenden Gesellschaft oder von der Verringerung des Gesellschaftskapitals der einbringenden Gesellschaft abhängig gemacht werden kann. Leg citsieht vor, dass die Zuteilung von Anteilen am Gesellschaftskapital der übernehmenden Gesellschaft an einen Gesellschafter der einbringenden Gesellschaft aufgrund einer Abspaltung für sich allein keine Besteuerung des Veräußerungsgewinns dieses Gesellschafters auslösen darf. Keine Bestimmung der FusionsRL macht die Anwendung von Art 8 Abs 2 FusionsRL davon abhängig, dass sich der Nennwert oder der Prozentsatz der Beteiligung des Gesellschafters der einbringenden Gesellschaft an dieser verringert oder dass die Abspaltung zu einer Verringerung des Gesellschaftskapitals der einbringenden Gesellschaft anstatt zu einer Verringerung zB ihrer Gewinnrücklagen führt. Es wird lediglich in Art 8 Abs 5 FusionsRL verlangt, dass der Gesellschafter der einbringenden Gesellschaft der Summe der erworbenen Anteile gemeinsam mit seinen Anteilen an der einbringenden Gesellschaft keinen höheren steuerlichen Wert beimisst, als den Anteilen an der einbringenden Gesellschaft unmittelbar vor der Abspaltung beigemessen wurde. Diese Umstände müssen die nationalen Gerichte selbst prüfen.

Conclusio

Nationale Gesetzgeber dürfen eine RL dergestalt ins nationale Recht überführen, dass sie deren Anwendungsbereich über grenzüberschreitende Sachverhalte hinaus auf rein innerstaatliche Sachverhalte, die von der RL nicht erfasst sind, ausdehnen. Nach stRsp des EuGH besteht in einem solchen Fall ein klares Interesse daran, dass jene Bestimmungen, die aus dem Unionsrecht übernommen wurden, einheitlich ausgelegt werden. Insofern macht es keinen Unterschied, ob diese Bestimmungen auf grenzüberschreitende oder rein inländische Sachverhalte angewandt werden (EuGH 18. 10. 1990, C-297/88 und C-197/89, Dzodzi, Rn 37; 17. 7. 1997, C-28/95, Leur-Bloem, Rn 32; 11. 1. 2001, C-1/99, Kofisa Italia, RN 32; 15. 1. 2002, C-43/00, Andersen, Rn 18; 14. 12. 2006, C-217/05, Confederacion Espanola, Rn 20). Ob sich der nationale Gesetzgeber für die Anwendbarkeit der RL auf reine Inlandssachverhalte entschieden hat, hat grds das vorlegende Gericht zu beurteilen (EuGH 18. 10. 1990, C-297/88 und C-197/89, Dzodzi, Rn 41). Der EuGH hält sich jedoch für unzuständig, eine nationale Regelung auszulegen, die keine unmittelbare und unbedingte Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht enthält, sondern sich darauf beschränkt, die unionsrechtliche Bestimmung als Muster zu nehmen, und dessen Begriffe nur zum Teil wiedergibt oder sogar ausdrücklich die Möglichkeit vorsieht, dass nationale Behörden Änderungen vornehmen, die eine „Divergenz“ zwischen der unionsrechtlichen und der nationalen Regelung herbeiführen sollen (EuGH 28. 3. 1995, C-346/93, Kleinwort Benson, Rn 16, 18 und 25).

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 34965 vom 17.01.2024