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Abstract
Der EuGH hob ein Urteil des EuG auf, in dem das EuG bestätigt hatte, dass eine Befreiungsbestimmung in den britischen Vorschriften über die Hinzurechnungsbesteuerung eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe darstellt. Bei der Überprüfung des EuG-Urteils konzentrierte sich das Höchstgericht auf die Frage, ob die umstrittene Befreiungsbestimmung einen selektiven Charakter hatte.
EuGH 19. 9. 2024, C‑555/22 P, C‑556/22 P und C‑564/22 P, Vereinigtes Königreich/Kommission ua
Sachverhalt
2019 erließ die Europäische Kommission (EK) einen Beschluss, in dem sie feststellte, dass Section 371IA Abs 4 Taxation (International and Other Provisions) Act 2010 (TIOPA) eine Beihilfe iSd Art 107 Abs 1 AEUV war und verpflichtete das Vereinigte Königreich, die gewährten Beihilfen von den Begünstigten zurückzufordern. Section 371IA Abs 4 TIOPA sah vor, dass bestimmte nichtgewerbliche Finanzierungserträge von ausländischen beherrschten Gesellschaften (CFC) nicht der Hinzurechnungsbesteuerung unterlagen. Diese Regelung war dem Vereinigten Königreich zuzurechnen, sie konnte den Handel zwischen den MS beeinträchtigen und den Wettbewerb verfälschen. Sie stellte einen Vorteil für bestimmte Unternehmen dar, weil sie keine Steuer (CFC-Abgabe) im Vereinigten Königreich zahlen mussten, wenn sie unter die Befreiung fielen. Der Vorteil wurde von der EK auch als selektiv eingestuft. Dabei bestimmte die EK die Vorschriften über die Hinzurechnungsbesteuerung als das Referenzsystem. Die Befreiung von der CFC-Abgabe stellte eine Abweichung von der allgemeinen Hinzurechnungsbesteuerung dar (a prioriSelektivität), und die Abweichung konnte auch nicht gerechtfertigt werden. Die Klägerinnen (ua das Vereinigte Königreich selbst) erhoben beim EuG eine Nichtigkeitsklage gem Art 256 AEUV. Das EuG bestätigte jedoch den Beschluss der EK. Daraufhin erhoben die Klägerinnen ein Rechtsmittel an den EuGH. Sie machten ua geltend, dass die EK die Vorschriften über die Hinzurechnungsbesteuerung falsch ausgelegt hatte und dies zur fehlerhaften Bestimmung des Referenzsystems führte.
Entscheidung des EuGH
Der EuGH prüft zunächst die Zulässigkeit des Rechtsmittelgrundes. Denn die Klägerinnen machen nicht geltend, dass sich das EuG bei der Beurteilung, ob die EK das Referenzsystem korrekt abgegrenzt hat, sich auf die falschen Gesichtspunkte gestützt hat (dies wäre nach stRsp eine zulässige Rechtsfrage, s zB EuGH 8. 11. 2022, C-885/19 P und C-898/19 P, Fiat Chrysler Finance Europe/Kommission, ECLI:EU:C:2022:859, Rn 85). Sie beanstanden die Auslegung des nationalen Rechts durch die EK und das EuG. Der EuGH führt aus, dass die Frage, ob das EuG bei der Abgrenzung des Referenzsystems die Bestimmungen des nationalen Rechts richtig ausgelegt hat, eine Rechtsfrage ist. Es handelt sich hierbei um die Prüfung und Qualifizierung des nationalen Rechts auf der Grundlage einer unionsrechtlichen Vorschrift (Art 107 Abs 1 AEUV; vgl EuGH 5. 12. 2023, C-451/21 P und C-454/21 P, Luxemburg/Kommission und Engie Global LNG Holding Sàrl/Kommission, ECLI:EU:C:2023:948, Rn 78). Der Rechtsmittelgrund ist daher zulässig.
Bei der Prüfung, ob eine mitgliedstaatliche Maßnahme selektiv ist, muss zunächst das Referenzsystem bestimmt werden (die „normale“ [Steuer-]Regelung). Danach muss die EK dartun, dass die umstrittene Maßnahme vom Referenzsystem abweicht. Maßnahmen, die vom Referenzsystem abweichen, sind a priori selektiv. Jedoch sind sie nicht iSd Art 107 Abs 1 AEUV selektiv, wenn der betreffende MS nachweisen kann, dass die Abweichung vom Referenzsystem gerechtfertigt ist (s EuGH 8. 11. 2022, C-885/19 P und C-898/19 P, Fiat Chrysler Finance Europe/Kommission, ECLI:EU:C:2022:859, Rn 68). Bei der Bestimmung des Referenzsystems muss die EK die Auslegung des nationalen Rechts durch den betreffenden MS akzeptieren, sofern diese Auslegung mit dem Wortlaut der Bestimmungen vereinbar ist. Die EK kann von der genannten Auslegung nur abweichen, wenn sie nachweist, dass in der Rsp und Verwaltungspraxis dieses MS eine andere Auslegung vorherrscht (s EuGH 5. 12. 2023, C-451/21 P und C-454/21 P, Luxemburg/Kommission und Engie Global LNG Holding Sàrl/Kommission, ECLI:EU:C:2023:948, Rn 120 f). Das Vereinigte Königreich legt die Vorschriften über die Hinzurechnungsbesteuerung dahin aus, dass sie Teil seines allgemeinen Körperschaftsteuersystems sind. Das Körperschaftsteuersystem und die Vorschriften über die Hinzurechnungsbesteuerung verfolgen dasselbe Ziel: Schutz der britischen Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage. Im für das Urteil maßgeblichen Aspekt werden auch beide Steuersysteme vom Territorialitätsprinzip beherrscht. Denn eine Hinzurechnungsbesteuerung von nichtgewerblichen Finanzierungserträgen erfolgt – gerade wegen der umstrittenen Maßnahme – nur insofern, als die Gewinne eines CFC aus dem Vereinigten Königreich künstlich weggeleitete Gewinne darstellen. Somit ist das allgemeine Körperschaftsteuersystem das Referenzsystem. Weder die EK noch das EuG haben darlegen können, dass in der britischen Rechtsanwendung eine andere Praxis gelebt wird. Im Ergebnis hat das EuG gegen Art 107 Abs 1 AEUV verstoßen, als es die Vorschriften über die Hinzurechnungsbesteuerung als Referenzsystem bestätigt hat. Der Klagegrund ist auch berechtigt. Der EuGH hebt das Urteil des EuG auf und erklärt den streitigen Beschluss der EK für nichtig.
Conclusio
Im vorliegenden Urteil bestätigt der EuGH, dass er im vor ihm geführten Rechtsmittelverfahren auch die durch das EuG vorgenommene Auslegung des nationalen Rechts überprüfen darf. Gem Art 256 Abs 1 UAbs 2 AEUV iVm Art 58 Abs 1 der Satzung des EuGH ist ein beim EuGH eingelegtes Rechtsmittel auf Rechtsfragen beschränkt (Jaeger/Stöger [Hrsg], EUV/AEUV Art 256 AEUV, Rn 29 [Stand 1. 4. 2024, rdb.at]). Beurteilungen des nationalen Rechts selbst sind im Bereich des Beihilferechts sind grds Tatsachenfragen und keine Rechtsfragen (EuGH 8. 11. 2022, C-885/19 P und C-898/19 P, Fiat Chrysler Finance Europe/Kommission, ECLI:EU:C:2022:859, Rn 82; EuGH 28. 6. 2018, C‑203/16 P, Andres [Insolvenz Heitkamp BauHolding]/Kommission, EU:C:2018:505, Rn 78 ua). Da die Wahl der Referenzsystems aber gleichzeitig der erste Prüfschritt des Vorliegens eines selektiven Vorteils gem Art 107 Abs 1 AEUV ist, ist die Frage, ob das EuG den einschlägigen Referenzrahmen angemessen abgrenzt und damit die ihn bildenden Bestimmungen richtig auslegt, gleichzeitig eine Rechtsfrage, die Gegenstand einer Überprüfung durch den Gerichtshof im Rechtsmittelverfahren sein kann (s EuGH 5. 12. 2023, C‑451/21 P und C‑454/21 P, Luxemburg ua/Kommission, EU:C:2023:948, Rz 78). Im Ergebnis legt der EuGH seine Zuständigkeit gem Art 256 Abs 1 UAbs 2 AEUV iVm Art 58 Abs 1 Satzung des EuGH im Bereich des Beihilferechts weit aus.