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EuGHVfO: Art 99
Abstract
Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er das vorlegende nationale Gericht verpflichtet, die rechtlichen Beurteilungen eines höheren nationalen Gerichts unberücksichtigt zu lassen, wenn ersteres der Auffassung ist, dass diese Beurteilungen nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Auffassung des vorlegenden Gerichts über die Unionsrechtswidrigkeit der Rsp des höheren Gerichts auf einer früheren Auslegung des EuGH in Form eines Urteils oder eines mit Gründen versehenen Beschlusses (Art 99 EuGHVfO) beruht.
EuGH 11. 1. 2024, C-537/22, Global Ink Trade Kft
Sachverhalt
Die ungarische Steuerverwaltung versagte einem Steuerpflichtigen (Stpfl) das Recht auf Vorsteuerabzug, weil er nicht mit der gebotenen Sorgfalt gehandelt habe. Konkret habe er versäumt, sich über die tatsächliche Identität seines Lieferers und über die Erfüllung dessen steuerlichen Pflichten ausreichend zu informieren. Dadurch habe er passive Steuerhinterziehung begangen. Gegen die Entscheidung erhob der Stpfl Klage beim zuständigen Gericht. Das Gericht stellte fest, dass der EuGH die einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmungen (Art 167, 168 lit a, 178 lit a und 273 MwStSyst-RL) bereits in zwei ähnlichen, Ungarn betreffenden Beschlüssen dahin ausgelegt hatte, dass sie es der Steuerverwaltung verbieten, vom Stpfl die Durchführung komplexer und umfassender Überprüfungen seines Lieferers zu verlangen (EuGH 3. 9. 2020, C-610/19, Vikingo Fővállalkozó Kft, Rn 56; 3. 9. 2020, C-611/19, Crewprint Kft, Rn 36). Die Kúria (Oberstes Gericht, Ungarn) wendet diese EuGH-Rsp jedoch nicht an, weil sie ihrer Ansicht nach keine neuen Gesichtspunkte für die Auslegung des Unionsrechts enthalten. Vielmehr verlangt die Kúria weiterhin, dass der Stpfl komplexe und umfassende Überprüfungen seines Lieferers vornimmt. Nach ungarischem Recht sind Gerichte niederer Instanz an die Urteile der Kúria grds gebunden. Ein Abweichen von den Urteilen ist jedoch zulässig, wenn das jeweilige Gericht dies begründet. Das vorlegende Gericht fragte den EuGH, ob der Grundsatz des Vorrangs der Entscheidungen des EuGH einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Urteilen eines letztinstanzlichen Gerichts eine verbindliche Präzedenzwirkung zuerkennt. Ferner fragte das Gericht, ob diese Frage anders zu beantworten ist, wenn die Entscheidung des EuGH in Form eines Beschlusses ergeht.
Entscheidung des EuGH
Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts besagt, dass das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten vorgeht. Dieser Grundsatz kann selbst dadurch nicht beeinträchtigt werden, dass sich ein Mitgliedstaat auf Bestimmungen des nationalen Verfassungsrechts beruft (EuGH 5. 6. 2023, C-204/21, Kommission/Polen, Rn 77). Geht aus der Rsp des EuGH eine eindeutige Antwort auf eine Frage der Auslegung des Unionsrechts hervor, so muss ein nationales Gericht alles Erforderliche tun, damit diese Auslegung umgesetzt wird (EuGH 9. 9. 2021, C-107/19, Dopravní podnik hl. m. Prahy, Rn 47). Wenn das nationale Gericht – welches von Art 267 AEUV Gebrauch macht und bei der Entscheidung des Ausgangsverfahrens an die Auslegung der betreffenden unionsrechtlichen Vorschriften durch den EuGH gebunden ist – der Meinung ist, dass die Beurteilung eines höheren nationalen Gerichts nicht dem Unionsrecht entspricht, muss das erstgenannte Gericht von dieser Beurteilung abweichen, indem es ggf jene nationale Vorschrift unangewendet lässt, die es verpflichtet, den Entscheidungen des höheren Gerichts nachzukommen (EuGH 24. 7. 2023, C-107/23, PPU Lin, Rn 132 und 133).
Weiters spricht der EuGH im vorliegenden Urteil aus, dass es unerheblich ist, ob die Auslegung durch den EuGH in Form eines Urteils oder eines mit Gründen versehenen Beschlusses (Art 99 EuGHVfO) erfolgt. In keiner Bestimmung der Verträge, der Satzung des EuGH oder der EuGHVfO wird nämlich iRd Vorabentscheidungsverfahrens zwischen Urteilen und mit Gründen versehenen Beschlüssen hinsichtlich ihrer Tragweite und ihrer Wirkungen unterschieden. Somit darf ein nationales Gericht einen Beschluss nicht mit der Begründung unberücksichtigt lassen, dass dieser anders als ein Urteil vermeintlich keine neuen Gesichtspunkte für die Auslegung des Unionsrechts enthalte (EuGH 11. 1. 2024, C-537/22, Global Ink Trade Kft, Rn 27).
Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht daher für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits an die Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH gebunden und muss ggf die von der Kúria in früheren Entscheidungen, die nach nationalem Recht als verbindliche Präzedenzfälle gelten, vorgenommene Beurteilung unberücksichtigt lassen. Dabei erscheint die dem vorlegenden Gericht obliegende Begründungspflicht des Abweichens von der Rsp der Kúria für sich genommen nicht geeignet, gegen den Vorrang des Unionsrechts zu verstoßen (EuGH 11. 1. 2024, C-537/22, Global Ink Trade Kf., Rn 29).
Conclusio
Der EuGH bestätigt durch das gegenständliche Urteil, dass mit Gründen versehenen Beschlüssen und Urteilen für Zwecke von Vorabentscheidungsverfahren die gleiche Wirkung und Tragweite zukommt. Das ungarische Höchstgericht hat seine Rsp zum Vorsteuerabzug in (vermeintlichen) Betrugsfällen nicht an jene des EuGH angepasst, weil es der Meinung war, dass ein Beschluss des EuGH keine neuen Gesichtspunkte für die Auslegung des Unionsrechts enthält. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass der EuGH nicht nur in Beschlüssen, sondern auch in mehreren Urteilen bereits ausgesprochen hat, dass die Finanzverwaltung vom Stpfl die Durchführung komplexer und umfassender Überprüfungen seines Lieferanten nicht verlangen darf, da dies faktisch zur Übertragung staatlicher Aufgaben auf den Unternehmer führen würde (vgl ua die Urteile EuGH 19. 10. 2017, C-101/16, Paper Consult, Rn 51 mVa EuGH 31. 1. 2013, C-642/11, Story trans, Rn 50; 21. 6. 2012, C-80/11 und C-142/11, Mahagében Kft und Dávid, Rn 61). Umso fragwürdiger erscheint die Tatsache, dass das ungarische Höchstgericht seine Rsp bislang nicht an jene des EuGH angepasst hat.