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EuGH: Doppelbestrafungsverbot in Kartellrechtssache

Bearbeiter: Sabine Kriwanek / Bearbeiter: Barbara Tuma

AEUV: Art 101

GRC: Art 50

Die Vorlagefragen des OGH betreffen die Tragweite des Grundsatzes ne bis in idem (Art 50 GRC), und zwar im Wesentlichen, ob dieser Grundsatz parallelen oder späteren wettbewerbsrechtlichen Verfahren in anderen Mitgliedstaaten entgegensteht, wenn diese offenbar zumindest teilweise dasselbe Verhalten zum Gegenstand haben. Dazu stellt der EuGH nun klar:

Art 50 GRC verbietet die neuerliche Verfolgung oder Bestrafung des Betroffenen „wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist“. Zu den ersten drei Vorlagefragen stellt der EuGH zunächst klar, dass die Anwendung von Art 50 GRC im gegebenen Zusammenhang von der Einordnung der Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen im innerstaatlichen Recht als „strafrechtlich“ unabhängig ist. Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem setzt im Rahmen von wettbewerbsrechtlichen Verfahren zweierlei voraus, nämlich dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“) und dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf dasselbe Verhalten abgestellt wird (Voraussetzung „idem“).

Verfolgt die Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaats ein Unternehmen wegen eines Verhaltens, das im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgte oder eine wettbewerbswidrige Wirkung hatte, kann sie gegebenenfalls wegen Verstoßes gegen Art 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des nationalen Wettbewerbsrechts eine Geldbuße verhängen, obwohl dieses Verhalten bereits von einer Wettbewerbsbehörde eines anderen Mitgliedstaats in einer endgültigen Entscheidung in Bezug auf dieses Unternehmen am Ende eines Verfahrens wegen Verstoßes gegen Art 101 AEUV und die entsprechenden Bestimmungen des Wettbewerbsrechts dieses anderen Mitgliedstaats erwähnt wurde, sofern diese Entscheidung nicht auf der Feststellung eines wettbewerbswidrigen Zwecks oder einer wettbewerbswidrigen Wirkung im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats beruht. Andernfalls verstößt die zweite Wettbewerbsbehörde gegen das Verbot der doppelten Strafverfolgung.

Zur Vorlagefrage betreffend das nationale Kronzeugenprogramm hält der EuGH fest, dass dem Grundsatz ne bis in idem auch ein Verfahren zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts unterliegen kann, in dem wegen der Teilnahme des betroffenen Beteiligten am nationalen Kronzeugenprogramm ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht lediglich festgestellt werden kann.

EuGH 22. 3. 2022, C-151/20, Nordzucker ua

Zum Vorabentscheidungsersuchen OGH als KOG 12. 3. 2020, 16 Ok 2/19h, RdW 2020/487.

Zu den Schlussanträgen des Generalanwalts siehe RdW 2021/561.

Hinweis: Zum Umfang des Schutzes, den der Grundsatz ne bis in idem im Wettbewerbsrecht gewährt, hat der EuGH am selben Tag auch zu einem belgischen Vorabentscheidungsersuchen iZm sektorspezifischen Regelungen (Postdiensteanbieter) Stellung genommen; siehe dazu EuGH 22. 3. 2022, C-117/20, bpost, Rechtsnews 32269.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 32268 vom 24.03.2022