News

EuGH: „Feste Niederlassung“ aufgrund eines Exklusivvertrags?

Bearbeiter: Bence Péter Komár

MwStSyst-RL: Art 44

MwSt-DVO: Art 11 Abs 1

Abstract

Verfügt der steuerpflichtige Empfänger einer Dienstleistung über eine „feste Niederlassung“ iSd Art 11 MwSt-DVO und werden Dienstleistungen an diese erbracht, dann gilt als Ort dieser Dienstleistung der Sitz der „festen Niederlassung“ und nicht jener der wirtschaftlichen Tätigkeit des Empfängers (Art 44 zweiter Satz MwStSyst-RL). Der EuGH hatte zu entscheiden, ob eine „feste Niederlassung“ des steuerpflichtigen Empfängers bereits dadurch begründet wird, dass der Erbringer der Dienstleistung aufgrund eines Lohnveredelungsvertrags seine personelle und technische Ausstattung ausschließlich verwendet, um Rohstoffe nach den Weisungen des Empfängers zu bestimmten Produkten zu verarbeiten.

EuGH 29. 6. 2023, C-232/22, Cabot Plastics Belgium SA

Sachverhalt

Zwischen der belgischen Cabot Plastics SA (Cabot Plastics) und der schweizerischen Cabot Switzerland GmbH (Cabot Switzerland) bestand im streitgegenständlichen Zeitraum (2014-2016) ein Lohnveredelungsvertrag. Aufgrund dieses Vertrags lagerte Cabot Plastics auf ihrem eigenen Betriebsgelände Rohstoffe, die durch Cabot Switzerland eingekauft wurden. Im Anschluss verarbeitete sie die Rohstoffe nach Weisungen der Cabot Switzerland zu bestimmten Produkten und lagerte sie danach wieder, bis sie durch Cabot Switzerland von Belgien aus an ihre verschiedenen Kunden auf dem belgischen, europäischen und Exportmarkt verkauft wurden. Die beiden Gesellschaften gehören zwar zum selben Konzern, sind aber rechtlich voneinander unabhängig. Die Anlagen von Cabot Plastics wurden ausschließlich verwendet, um den Vertrag mit Cabot Switzerland zu erfüllen und die Dienstleistungen von Cabot Plastics an Cabot Switzerland machten nahezu ihren gesamten Umsatz aus. Nach einer Steuerprüfung der belgischen Steuerverwaltung wurde gegen Cabot Plastics ein Bescheid erlassen, in dem sie aufgefordert wurde, Mehrwertsteuer iHv mehr als 10 Mio Euro und eine Geldbuße iHv mehr als 1 Mio Euro zzgl gesetzlicher Zinsen für den streitgegenständlichen Zeitraum nachzuzahlen. Begründend führte die Steuerverwaltung aus, dass Cabot Switzerland in Belgien über eine „feste Niederlassung“ iSd Mehrwertsteuerrechts verfüge, so dass die von Cabot Plastics an Cabot Switzerland erbrachten Dienstleistungen gem Art 44 zweiter Satz MwStSyst-RL in Belgien steuerbar seien. Der Fall gelangte vor den Appellationshof Lüttich (vorlegendes Gericht), welcher den EuGH gem Art 267 AUEV um Vorabentscheidung der Frage ersuchte, ob aufgrund der gegenständlichen Fallgestaltung eine „feste Niederlassung“ iSd Art 44 MwStSyst-RL iVm Art 11 Abs 1 MwSt-DVO begründet wurde.

Entscheidung des EuGH

Werden Dienstleistungen an eine „feste Niederlassung“ des Steuerpflichtigen erbracht, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, so gilt gem Art 44 zweiter Satz MwStSyst-RL als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der „festen Niederlassung“. Bei der Prüfung der Frage, ob eine „feste Niederlassung“ vorliegt, ist auf den steuerpflichtigen Empfänger der Dienstleistung abzustellen (EuGH 7. 4. 2022, C‑333/20, Berlin Chemie A. Menarini, Rn 30). Dieser muss über eine Niederlassung verfügen, die iSd Art 11 Abs 1 MwSt-DVO einen hinreichenden Grad an Beständigkeit sowie eine Struktur aufweist, die es ihr von der personellen und technischen Ausstattung her erlaubt, Dienstleistungen, die für den eigenen Bedarf dieser Niederlassung erbracht werden, zu empfangen und dort zu verwenden. Dabei ist es nicht erforderlich, die personelle und technische Ausstattung selbst zu besitzen, doch muss der Dienstleistungsempfänger befugt sein, über die besagte Ausstattung in derselben Weise zu verfügen, als wäre sie seine eigene. Das Vorliegen eines Vertrags zwischen dem Dienstleistungserbringer und dem -empfänger, wonach der Dienstleistungserbringer ausschließlich für diesen -empfänger tätig wird, hat für sich genommen nicht zur Folge, dass der Empfänger über die personelle und technische Ausstattung des Dienstleistungserbringers verfügt wie über seine eigene. Ferner kann nach der Rsp des EuGH ein und dieselbe Ausstattung nicht gleichzeitig zur Erbringung von Dienstleistungen und zum Empfang derselben Dienstleistungen verwendet werden (EuGH 7. 4. 2022, C‑333/20, Berlin Chemie A. Menarini, Rn 54). Fallbezogen heißt dies, dass die von Cabot Plastics für die Erbringung der Lohnveredelung verwendete Struktur nicht gleichzeitig für den Empfang der Lohnveredelungsleistung durch Cabot Switzerland zur Verfügung stehen kann. Mangels einer hierfür geeigneten Struktur liegt keine „feste Niederlassung“ der Cabot Switzerland in Belgien vor und die Lohnveredelungsleistung ist somit in Belgien nicht steuerbar.

Conclusio

Die Begründung des EuGH ist plausibel. Selbst wenn Cabot Plastics einen Exklusivvertrag mit Cabot Switzerland hat, wonach Cabot Plastics ihre personelle und technische Ausstattung ausschließlich verwendet, um den Vertrag nach Weisungen der Cabot Switzerland zu erfüllen, bleibt Cabot Plastics für ihre eigene Ausstattung verantwortlich und erbringt die Dienstleistung auf eigene Gefahr. Wenn eine Gesellschaft, die Dienstleistungen empfängt, über die Ausstattung ihres Dienstleistungserbringens nicht derart verfügt, als ob sie ihre eigene wäre, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass sie dort allein aufgrund des Exklusivvertrags mit dem Dienstleistungserbringer über eine „feste Niederlassung“ verfügt (vgl EuGH 7. 4. 2022, C‑333/20, Berlin Chemie A. Menarini, Rn 48, e contrario).

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 34616 vom 12.10.2023