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EuGH-GA: Indexierung von Familienbeihilfe und Absetzbeträgen unionsrechtswidrig?

Bearbeiter: Nicholas Pacher

VO (EG) 883/2004 (KoordinierungsVO): Art 4, 7, 67

VO (EU) 492/2011 (FreizügigkeitsVO): Art 7 Abs 2

EStG 1988: § 33 Abs 3-4

FLAG 1967: § 8a

Abstract

Generalanwalt (GA) de la Tour hatte zu beurteilen, ob die Indexierung der österreichischen Familienbeihilfe (FBH), des Kinderabsetzbetrags (KAB), des Familienbonus Plus, des Unterhaltsabsetzbetrags, des Alleinverdiener- und des Alleinerzieherabsetzbetrags für Erwerbstätige, deren Kinder ständig im EU-Ausland wohnen, unionsrechtskonform ist. De la Tour kam zum Schluss, dass eine durch den Anpassungsmechanismus bedingte eingeschränkte Gewährung von FBH und KAB sowohl gegen die KoordinierungsVO als auch gegen die FreizügigkeitsVO verstößt. Eine Herabsetzung der übrigen Absetzbeträge sei im Hinblick auf Art 7 Abs 2 FreizügigkeitsVO nicht zulässig.

GA de la Tour 20. 1. 2022, C-328/20, Kommission/Österreich, ECLI:EU:C:2022:45.

Würdigung des GA

Der GA qualifizierte in Übereinstimmung mit der Kommission und Österreich die FBH und den KAB als „Familienleistungen“ iSd Art 1 lit z und Art 3 Abs 1 lit j KoordinierungsVO. „Familienleistungen“ dürfen lt Art 7 KoordinierungsVO „nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaatwohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.“ Art 67 KoordinierungsVO präzisiert, dass Personen „für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats [haben], als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.“ Diese Bestimmungen stehen laut GA de la Tour der Herabsetzung von FBH und KAB für den Fall, dass sich das anspruchsvermittelnde Kind ständig im EU-Ausland aufhält, entgegen. Ihnen zufolge dürfe der Aufenthalts-/Wohnort der Kinder nämlich keinen negativen Einfluss auf die Höhe der zu gewährenden Familienleistungen haben.

Zusätzlich stellte der GA entsprechend der Klage der Kommission eine Unvereinbarkeit des Anpassungsmechanismus mit den Gleichbehandlungsgrundsätzen nach Art 4 KoordinierungsVO und Art 7 Abs 2 FreizügigkeitsVO fest. Gemäß letzterem genießt ein grenzüberschreitend tätiger Arbeitnehmer im Beschäftigungsmitgliedstaat „die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer“, falls sie sich in vergleichbaren Situationen befinden und eine Verweigerung der Vergünstigungen nicht gerechtfertigt und verhältnismäßig ist. Laut GA, Kommission und Österreich seien die FBH und der KAB unter den Begriff der „sozialen Vergünstigungen“ sowie die übrigen Absetzbeträge unter die „steuerlichen Vergünstigungen“ zu subsumieren. Die Gewährung geringerer Vergünstigungen für den Fall, dass sich die Kinder eines Erwerbstätigen ständig in bestimmten Mitgliedstaaten aufhalten, diskriminiere Wanderarbeitnehmer mittelbar, weil insbesondere deren Nachkommen in den fraglichen Mitgliedstaaten wohnen können. Österreich führe keinen zulässigen Rechtfertigungsgrund für diese Ungleichbehandlung an, weshalb sie unzulässig sei.

Die Schlussanträge des GA sind für die Richter und Richterinnen des EuGH nicht bindend. Mit einer Entscheidung des Gerichtshofs ist in den kommenden Monaten zu rechnen.

Conclusio

Die Würdigung des GA im Hinblick auf die Unionsrechtskonformität der Indexierung von FBH und KAB überzeugt nur dann, wenn man die Einschätzung der Kommission, Österreichs und des GA teilt, dass es sich bei diesen Zahlungen um Familienleistungen und soziale Vergünstigungen iSd streitgegenständlichen EU-VOs handelt (siehe dann zB auch Mayr, ZÖR 2018, 317 [323 ff]). Hierzu müssen beide Zuwendungen ua einen sozialen Zweck verfolgen – so kommen als „Familienleistungen“ Vergünstigungen in Frage, die ein staatlicher Beitrag zum Familienbudget sind, der die Kosten für den Unterhalt von Kindern verringert (vgl zB EuGH, C‑802/18, Rn 38). Anstelle dieser Unterstützungsfunktion konnten FBH und KAB aber zumindest bis zur Einführung des Familienbonus Plus durch das JStG 2018, BGBl I 2018/62, (teilweise) einen steuerlichen Zweck erfüllen: Sie fungierten insoweit als Einkommensteuerrückerstattung, als steuerliche Entlastungsmaßnahmen – wie etwa der Unterhaltsabsetzbetrag – nicht ausreichten, um die Hälfte der für den Unterhalt eines Kindes aufgewendeten Einkommensteile der Eltern steuerfrei zu stellen. Ob die Transferzahlungen seit dem JStG 2018 weiterhin eine steuerliche Entlastungsfunktion entfalten können, ist umstritten (siehe insb OGH 11. 12. 2019, 4 Ob 150/19s, und dazu krit Lachmayer, iFamZ 2020, 154 [156 ff]). Geht man davon aus, könnten die FBH und der KAB nicht vollumfänglich vom Anwendungsbereich der KoordinierungsVO erfasst sein und gegebenenfalls auch als steuerliche Vergünstigungen iSd Art 7 Abs 2 FreizügigkeitsVO klassifiziert werden (siehe Pacher/Staringer in Kofler et al (Hrsg), CJEU – Recent Developments in Direct Taxation 2020 [2021] 111 [129 f]).

Als Rechtfertigungsgrund für die Beschränkung von „steuerlichen Vergünstigungen“ bei ständigem Aufenthalt von Kindern im EU-Ausland hätte Österreich etwa die Wahrung der Kohärenz des Steuersystems ins Treffen führen können (vgl dazu und zur Verhältnismäßigkeit der länderweisen Indexierung im Detail Pacher/Staringer in Kofler et al111 [120 ff]). Tatsächlich ist aber bereits zweifelhaft, ob – wovon der GA auszugehen scheint – die Situation von Wanderarbeitnehmern mit Kindern im EU-Ausland mit der von Österreichern mit Kindern im Inland vergleichbar ist (vgl hierzu Pacher/Staringer in Kofler et al 111 [117 ff]). Verneint man die Vergleichbarkeit dieser Situationen oder erachtet man die Indexierung als gerechtfertigt, wäre sie aus unionsrechtlicher Sicht wohl nicht zu beanstanden. Allerdings sind die von Österreich im Vertragsverletzungsverfahren bislang vorgebrachten Argumente wenig überzeugend, weshalb anzunehmen ist, dass der EuGH den Schlussanträgen des GA folgen und die Indexierung der Familienbeihilfe sowie der Absetzbeträge als unionsrechtswidrig einstufen wird.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 32087 vom 16.02.2022