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EuGH: (Komplexe) einheitliche Leistung eines Ladepunktbetreibers

Bearbeiter: Bence Péter Komár

MwStSyst-RL: Art 1 Abs 2 UAbs 2, Art 14 Abs 1, Art 15 Abs 1, Art 24 Abs 1

Abstract

In der vorliegenden Rs wurde der EuGH angerufen, um die umsatzsteuerliche Qualifikation einer (komplexen) einheitlichen Leistung eines Ladepunktbetreibers zu klären, die aus der Bereitstellung von Ladevorrichtungen für Elektrofahrzeuge, der Übertragung von Elektrizität, technischer Unterstützung und IT-Anwendungen besteht. Das vorlegende Gericht wollte wissen, ob die in Rede stehende einheitliche Leistung als Lieferung iSd Art 14 Abs 1 MwStSyst-RL oder als Dienstleistung iSd Art 24 Abs 1 MwStSyst-RL zu qualifizieren ist. Nach Ansicht des EuGH stellt die Übertragung von Elektrizität den charakteristischen und dominierenden Bestandteil der betreffenden komplexen einheitlichen Leistung dar. Dementsprechend stufte der EuGH die in Rede stehende Leistung als Lieferung ein.

EuGH 20. 4. 2023, C-282/22, Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej

Sachverhalt

Der Steuerpflichtige (Stpfl) beabsichtigt, künftig öffentlich zugängliche Ladestationen in Polen zu betreiben. Diese Ladestationen hätten mit sog Multistandard-Ladegeräten ausgestattet werden sollen, die sowohl über Schnellladeanschlüsse mit Gleichstrom als auch über Langsamladeanschlüsse mit Wechselstrom verfügten. Die bei jedem Ladevorgang erbrachte Leistung hätte grds je nach dem Bedarf des betreffenden Nutzers folgende Umsätze umfassen können: (i) Bereitstellung von Ladevorrichtungen, einschließlich der Verbindung des Ladegeräts mit dem Betriebssystem des Fahrzeugs; (ii) Übertragung von Elektrizität mit entsprechend angepassten Parametern an die Batterie des Elektrofahrzeugs; (iii) notwendige technische Unterstützung sowie (iv) Bereitstellung einer speziellen Plattform für die Nutzer, mit der der betreffende Anschluss reserviert werden kann, der Umsatzverlauf eingesehen werden kann, und auch die Nutzung einer sog elektronischen Geldbörse angeboten wird, mit der für die einzelnen Ladevorgänge gezahlt werden kann. Der Stpfl beantragte bei der zuständigen Steuerbehörde die Erteilung eines Steuervorbescheids, mit dem bescheinigt werde, dass es sich bei der geplanten Tätigkeit um eine „Dienstleistung“ iSd Art 8 des polnischen Mehrwertsteuergesetzes (vgl Art 24 Abs 1 MwStSyst-RL) handle. Die Steuerbehörde war jedoch der Ansicht, dass es sich bei der infrage stehenden einheitlichen Leistung um eine Lieferung handelt. Nach zwei weiteren Instanzenzügen auf Gerichtsebene, rief das Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau den EuGH mit der Frage an, ob die in Rede stehende Leistung des Stpfl als Lieferung oder Dienstleistung einzustufen ist.

Entscheidung des EuGH

Aus Art 1 Abs 2 UAbs 2 MwStSyst-RL leitet der EuGH ab, dass jeder Umsatz idR als eigene selbstständige Leistung zu betrachten ist, mit der Ausnahme, dass ein Umsatz eine wirtschaftlich einheitliche Leistung darstellt. Ein solcher Umsatz darf nicht künstlich aufgespalten werden. Eine einheitliche Leistung liegt nach stRsp dann vor, wenn mehrere Leistungen des Stpfl für den Kunden so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv eine einzige untrennbare wirtschaftliche Leistung bilden, deren Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre. (EuGH 10. 3. 2011, C‑497/09, C‑499/09, C‑501/09 und C‑502/09, Bog ua, Rn 53; 25. 3. 2021, C‑907/19, Q‑GmbH, Rn 20). Bei der Prüfung, ob eine komplexe einheitliche Leistung als Lieferung oder als Dienstleistung einzustufen ist, verlangt das Höchstgericht, dass deren charakteristische Bestandteile ermittelt und darunter die dominierenden Bestandteile bestimmt werden (EuGH 10. 3. 2011, C‑497/09, C‑499/09, C‑501/09 und C‑502/09, Bog ua, Rn 61 mVa weitere Rsp). Im vorliegenden Fall ging es um eine Kombination von Leistungen, die in der Lieferung von Elektrizität zum Aufladen von Elektrofahrzeugen und der Erbringung verschiedener Dienstleistungen bestand. Der EuGH stellte fest, dass die Lieferung von Elektrizität als eine Lieferung gem Art 14 Abs 1 iVm Art 15 Abs 1 MwStSyst-RL ist, während die Bereitstellung von Ladevorrichtungen, technischer Unterstützung und IT-Anwendungen Dienstleistungen gem Art 24 Abs 1 MwStSyst-RL sind. Da die Bereitstellung der Ladevorrichtung notwendig mit der Vermarktung von Elektrizität verbunden ist, ist diese Dienstleistung – als sog minimale Dienstleistung – bei der Qualifikation des Gesamtumsatzes nicht zu berücksichtigen. Die Bereitstellung der technischen Unterstützung und der IT-Anwendung stellen ihrerseits keinen eigenen Zweck dar. Sie sind somit Nebenleistungen zur Hauptleistung Lieferung von Elektrizität. Aufgrund dieser Umstände gelang der EuGH zum Ergebnis, dass die Übertragung von Elektrizität den charakteristischen und dominierenden Bestandteil der gegenständlichen einheitlichen und komplexen Leistung darstellt. Eine komplexe einheitliche Leistung, die aus den oben genannten Teilleistungen besteht, ist nach Ansicht des Höchstgerichts somit als Lieferung gem Art 14 Abs 1 MwStSyst-RL einzustufen.

Conclusio

Der Entscheidung des EuGH ist im Ergebnis zuzustimmen. Jedoch scheint das Höchstgericht der eigens geschaffenen Unterscheidung zwischen komplexer einheitlicher Leistung einerseits und Leistungseinheit bestehend aus Haupt- und Nebenleistung andererseits nicht zu folgen. Eine komplexe einheitliche Leistung ist dadurch geprägt, dass den verschiedenen Leistungsinhalten grundlegende Bedeutung zukommt und sie nicht in eine Haupt- und weitere Nebenleistungen aufgeteilt werden können (vgl EuGH 2. 7. 2020, C-231/19, Blackrock Investment Management (UK), Rn 33). Bei der einheitlichen Leistung bestehend aus Haupt- und Nebenleistung erfüllen Nebenleistungen keinen eigenständigen Zweck. Sie sind sog Zusatzleistungen, die die Hauptleistung bloß verbessern und die Erbringung der Hauptleistung zu optimalen Bedingungen ermöglichen (EuGH 22. 10. 1998, C-308/96 und C-94/97, Madgett und Baldwin, Rn 24; 25. 2. 1999, C-349/96, CPP, Rn 30; vgl auch VwGH 27. 2. 2014, 2012/15/0044; 15. 9. 2011, 2011/17/0047; 22. 11. 2018, Ra 2017/15/0091). Auch wenn es sich in beiden Fällen um eine einheitliche Leistung handelt, unterscheiden sich sowohl die Regeln der Einstufung als Lieferung oder Dienstleistung als auch die Rechtsfolgen. Bei der Prüfung, ob eine komplexe einheitliche Leistung als Lieferung oder als Dienstleistung einzustufen ist, sind die dominierenden Bestandteile der Leistung maßgebend (EuGH 10. 3. 2011, C‑497/09, C‑499/09, C‑501/09 und C‑502/09, Bog ua, Rn 61, mVa weitere Rsp). Im Verhältnis Hauptleistung zu unselbstständigen Nebenleistungen richtet sich diese Einordnung nach der Qualifikation der Hauptleistung (EuGH 22. 10. 1998, C-308/96 und C-94/97, Madgett und Baldwin, Rn 24; CPP, Rn 30). Rechtsfolgenseitig besteht der Unterschied in der Anwendung des entsprechenden Steuersatzes. Besteht die komplexe einheitliche Leistung aus Teilleistungen, die dem Normalsteuersatz unterliegen, und aus Teilleistungen, die einem ermäßigten Steuersatz unterliegen, ist auf die gesamte komplexe einheitliche Leistung der Normalsteuersatz anwendbar. Eine Ausweitung des ermäßigten Steuersatzes auf jene Teilleistungen, die dem Normalsteuersatz unterliegen, ist nicht möglich (EuGH 10. 11. 2016, C-432/15, Baštová, Rn 75). Im Falle von einheitlichen Leistungen, die aus einer Haupt- und Nebenleistung bestehen, gilt immer jener Steuersatz, der auf die Hauptleistung anwendbar ist (EuGH 25. 2. 1999, C-349/96, CPP, Rn 29 f; 21. 5. 2001, C-34/99, Primback Ltd, Rn 45; 27. 10. 2005, C-41/04, Levob Verzekeringen BV, Rn 21; 10. 11. 2016, C-432/15, Baštová, Rn 76; 18. 1. 2018, C-463/16, Stadion Amsterdam, Rn 36). Eine scharfe Trennung zwischen komplexer einheitlicher Leistung und Leistungseinheit bestehend aus Haupt- und Nebenleistung ist aufgrund dieser Unterschiede grds geboten. Die Unterscheidung ist nur in jenen Fällen nicht maßgebend, wenn für keine der Teilleistungen ein ermäßigter Steuersatz anwendbar ist.

Artikel-Nr.
Rechtsnews Nr. 34086 vom 01.06.2023