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MwStSyst-RL: Art 86 Abs 1 lit b und Abs 2, Art 144
Abstract
In der Rs Cartrans hatte der EuGH sechs Vorlagefragen zu beantworten. Zwei davon sind von besonderem Interesse: Bei der Auslegung der MwStSyst-RL hatte er sich mit der Anwendung des Art 144 iVm Art 86 MwStSyst-RL zu befassen. Art 144 MwStSyst-RL befreit Dienstleistungen, die sich auf die Einfuhr von Gegenständen beziehen und deren Wert gem Art 86 Abs 1 lit b in der Steuerbemessungsgrundlage enthalten ist. Fraglich war, ob die Registrierung des Einfuhrumsatzes bereits für sich genommen bedeutet, dass die Kosten solcher Dienstleistungen in der Bemessungsgrundlage für die MwSt auf die eingeführten Gegenstände enthalten sind. Ferner wollte das vorlegende Gericht wissen, inwieweit die Erfüllung national vorgeschrieben Formvorschriften für die Befreiung iSd Art 144 verlangt werden darf.
EuGH 7. 9. 2023, C-461/21, Cartrans
Sachverhalt
Cartrans ist eine rumänische Gesellschaft, die Güterkraftverkehrsdienste anbietet. Sie beförderte Gegenstände von den Niederlanden, wo die Gegenstände in die Europäische Union gelangt waren, nach Rumänien. Die zuständige rumänische Steuerbehörde legte der Gesellschaft nach einer Steuerprüfung zusätzliche MwSt iHv 311 Euro auf. Cartrans habe nicht die notwendigen Dokumente vorgelegt, die belegten, dass die streitigen Beförderungsleistungen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einfuhr der betreffenden Gegenstände stünden und dass der Wert der Dienstleistungen in der Steuerbemessungsgrundlage der eingeführten Gegenstände enthalten sei. Cartrans machte beim vorlegenden Gericht hingegen geltend, dass die Kosten der Beförderung nach Rumänien in den Zollwert und in die Bemessungsgrundlage gem Art 86 Abs 1 lit b MwStSyst-RL zwingend einbezogen worden seien, weil sowohl im Frachtbrief als auch in der summarischen Versandanmeldung, für die Cartrans eine sog „Master Reference Number“ (MRN) erteilt worden sei (Registrierung), der Empfänger der Gegenstände in Rumänien genannt sei. Daraufhin legte das zuständige Gericht dem EuGH die Frage vor, ob das Vorhandensein einer MRN bereits für sich bedeutet, dass alle in Art 86 Abs 1 lit a und b MwStSyst-RL genannten Kosten in die Bemessungsgrundlage für die MwSt auf die eingeführten Gegenstände enthalten sind. Ferner fragte es den EuGH, ob die Befreiung gem Art 144 MwStSyst-RL versagt werden darf, weil kein streng formaler Nachweis der Einbeziehung der Beförderungskosten in die Bemessungsvorlage der Einfuhrumsatzsteuer erbracht worden sei.
Entscheidung des EuGH
Bzgl der ersten Vorlagefrage führt der EuGH aus, dass Art 144 MwStSyst-RL zwei Voraussetzungen dafür vorsieht, dass eine Beförderungsleistung von der MwSt befreit ist. Erstens muss die Leistung mit der Einfuhr des betreffenden Gegenstands in Zusammenhang stehen. Zweitens muss der Wert dieser Leistung in die Bemessungsgrundlage für die MwSt auf den eingeführten Gegenstand enthalten sein. Grds bildet der Zollwert der eingeführten Gegenstände die Bemessungsgrundlage (Art 85 MwStSyst-RL). Art 86 Abs 1 lit b MwStSyst-RL stellt in diesem Zusammenhang klar, dass in diese Steuerbemessungsgrundlage – „soweit nicht bereits darin enthalten“ – ua jene Kosten einzubeziehen sind, die sich aus der Beförderung nach einem anderen Bestimmungsort in der Union ergeben als der Ort der Verbringung in die Union. Aus dem Wortlaut geht hervor, dass diese Beförderungsleistungen nicht zwingend im Zollwert der eingeführten Gegenstände (Art 85 MwStSyst-RL) enthalten sind. Andernfalls wäre Art 86 MwStSyst-RL seine praktische Wirksamkeit genommen. Die Registrierung des Einfuhrumsatzes (Erstellung der summarischen Eingangsanmeldung durch die Zollbehörde durch Zuteilung einer MRN) bedeutet daher nicht bereits für sich genommen, dass die Kosten der anschließenden Beförderung in den Zollwert einbezogen wären. Ebenso wenig stellt das Vorhandensein einer MRN den Nachweis dafür dar, dass alle in Art 86 Abs 1 lit a und b MwStSyst-RL genannten Kosten in die Steuerbemessungsgrundlage der eingeführten Gegenstände einbezogen wurden.
Dagegen stellen Dokumente wie der CMR-Frachtbrief oder ein Versandbegleitdokument, das auf der Grundlage der von der Zollbehörde überprüften Versandanmeldung erstellt wurde, aber auch die Rechnung und der Beförderungsvertrag Aspekte dar, die die Steuerbehörden bei der Beurteilung, ob ein Anspruch auf Mehrwertsteuerbefreiung für Beförderungsleistungen besteht, grds zu berücksichtigen haben. Insofern ist auch die zweite Vorlagefrage zu verneinen. In Ermangelung einer Bestimmung in der MwStSyst-RL, welche Beweise Stpfl vorlegen müssen, um in den Genuss der Steuerbefreiung zu gelangen, sind zwar die Mitgliedstaaten dafür zuständig, die Bedingungen festzulegen, unter denen sie Einfuhrumsätze befreien. Dabei ist aber jeder Umsatz unter Berücksichtigung seiner objektiven Merkmale zu besteuern (EuGH 9. 2. 2017, C‑21/16, Euro Tyre, Rn 34), sodass Mitgliedstaaten eine Steuerbefreiung nicht ausschließlich von der Einhaltung formeller Pflichten abhängig machen dürfen. Vielmehr erfordern die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität, dass eine Befreiung gewährt wird, wenn hierfür die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat (EuGH 9. 2. 2017, C‑21/16, Euro Tyre, Rn 34).
Conclusio
Art 144 MwStSyst-RL sieht eine Befreiung für Dienstleistungen vor, die sich auf die Einfuhr von Gegenständen beziehen und deren Wert gem Art86 Abs 1 lit b MwStSyst-RL in der Steuerbemessungsgrundlage enthalten ist. Nach Art 86 Abs 1 lit b sind die dort genannten Kosten in die Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer auf die eingeführten Gegenstände einzubeziehen, wenn sie nicht bereits im Zollwert (Art 85 MwStSyst-RL) enthalten sind. Die Registrierung des Einfuhrumsatzes an sich bedeutet dabei nicht zwingend, dass diese Kosten in die Bemessungsgrundlage der Einfuhrumsatzsteuer tatsächlich einbezogen wurden. Dokumente wie der Frachtbrief, ein Versandbegleitdokument, das auf der Grundlage der von der Zollbehörde überprüften Versandanmeldung erstellt wurde, aber auch die Rechnung und der Beförderungsvertrag sind hingegen Aspekte, die die Steuerbehörden bei der Prüfung der Anspruch auf Steuerbefreiung gem Art 144 zu berücksichtigen haben. Dass Mitgliedstaaten die Anwendbarkeit einer auf Unionsrecht beruhenden Bestimmung nicht allein aufgrund nationaler Formvorschriften versagen dürfen, liegt auf der Hand. Würde man nämlich eine solche alle anderen Beweisarten ausschließende Beweisart vorschreiben, so bedeutete dies, dass der Anspruch auf Steuerbefreiung von der Einhaltung formeller (Anm: nationaler!) Pflichten abhängig gemacht würde, ohne zu prüfen, ob die vom Unionsrecht aufgestellten materiellen Anforderungen tatsächlich erfüllt oder nicht erfüllt wurden (vgl EuGH 7. 9. 2023, C-461/21, Cartrans, Rn 46). Dies könnte dazu führen, dass das nationale Recht unionsrechtswidrig angewendet wird, wenn eine Steuerbefreiung nicht versagt wird, obwohl deren materiellen Voraussetzungen erfüllt sind.